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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1120–1122

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Volker, Merz, Rainer, u. Heinz Schmidt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003. 352 S. m. Abb. 8 = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 18. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-8253-1510-X.

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Das Diakonische, das in diesem Band umrissen wird, betrifft zweierlei: In einem ersten exegetischen Teil sind sechs Beiträge zusammengestellt, die sich mit dem biblischen Diakonieverständnis auseinander setzen. Der zweite Teil umfasst neun recht unterschiedliche Aufsätze, die unter dem Thema "Theologie im Kontext sozialer Arbeit" zusammengestellt sind und sich im weiteren Sinne mit der diakoniewissenschaftlichen Frage nach einer Profilbildung diakonischen Handelns im Spannungsfeld von christlichem Proprium, ökonomischer Unternehmensführung und fachwissenschaftlicher Zugänge sozialer Arbeit beschäftigen. Anlass für diesen zweiten Teil waren sechs Probevorlesungen, die im Rahmen des Berufungsverfahrens für eine Professur "Theologie/Diakoniewissenschaft" an der Evangelischen Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg im Mai 2002 gehalten wurden. Ihnen folgen drei weitere Beiträge.

Ausgangspunkt der Studie ist die Frage nach dem Besonderen der Diakonie angesichts des Marktes sozialer Dienstleistungen. So schreiben die Herausgeber (8): "Alle Beiträge dieses Buches sind von der Absicht getragen, die Diakonie mit Hilfe ihres theologischen Erbes neu zu profilieren, sei es durch exegetische Arbeit an diakonischen oder sozialen Schlüsseltexten des Neuen Testaments, sei es durch theologisch-ethische Reflexionen bestimmter Kontexte sozialen Handelns." Letztlich treibt die einzelnen Aufsätze des Bandes die Suche nach der theologischen Identität der Diakonie um.

Der erste Beitrag von Bettina Rost behandelt das Thema Armut und Reichtum im lukanischen Doppelwerk unter drei Aspekten, nämlich denen der eschatologischen Umkehrung der Besitzverhältnisse, der Kritik am Reichtum und der Zuwendung zu den Armen sowie der Weisungen für einen konstruktiven Umgang mit Reichtum und Besitz. Am Ende verknüpft Rost ihre Erkenntnisse mit der aktuellen weltweiten Diskrepanz zwischen Reichtum und Armut. Der nächste Beitrag - ebenfalls eine Qualifizierungsarbeit für das Diakoniewissenschaftliche Institut Heidelberg - bearbeitet das Verständnis des Dienstes anhand der Begriffe "diakonein", "diakonia" und "diakonos" bei Markus und Lukas, ein Seitenblick wird auch auf das Matthäusevangelium geworfen. Äußerst kenntnis- und detailreich arbeitet Jonas heraus, wie Jesu gesamtes Wirken in je eigener Weise bei Markus und Lukas zentral als Dienst verstanden wird.

Der wirkungsreichste Aufsatz des Bandes stammt von dem Hamburger Ethiker Hans-Jürgen Benedict. Es handelt sich um einen Wiederabdruck seines Aufsatzes "Die größere Diakonie: Versuch einer Neubestimmung im Anschluss an John N. Collins", der bereits 2001 in der Zeitschrift "Wege zum Menschen" erschien. Benedict zeigt, wie einseitig die exegetische Forschung hierzulande im Gefolge des diakoneo-diakonia-diakonos-Artikels im ThWNT von Hermann Wolfgang Beyer, der wiederum stark von Wilhelm Brandts neutestamentlicher Dienst-Monographie aus dem Jahre 1931 geprägt war, das biblische Diakonieverständnis auslegte - ganz in der Tradition von Demut und Selbsthingabe der Kaiserswerther Diakonissen. Dem stellt er die Dissertation des australischen Neutestamentlers Collins gegenüber, die 1976 in London angenommen, aber erst 1990 unter dem Titel "Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources" in New York und Oxford publiziert wurde. Wiederum zehn Jahre später brachte Benedict mit seinem Aufsatz "Beruht der Anspruch der evangelischen Diakonie auf einer Missinterpretation der antiken Quellen?" in Pastoraltheologie 89 die Diakonia-Thesen von Collins unter die deutschsprachige theologische Leserschaft.

Die Bedeutung "bei Tische dienen" bzw. "Kellner" sei nach Collins nicht die Grundbedeutung von "diakonia/os" im griechischen Sprachgebrauch des neutestamentlichen Umfeldes, vielmehr "ein Mandat übernehmen". Innerhalb der frühchristlichen Schriften gebe es drei Bedeutungsbereiche: Botschaften vom Himmel, Botschaften zwischen den Kirchen und Beauftragungen in der Kirche. Damit gehe es bei der Diakonie im neutestamentlichen Sinn also nicht um ein Dienstideal der Niedrigkeit und Lebenshingabe, sondern um Kommunikation und den "Akt des Dazwischengehens". Die einzelnen Anregungen Benedicts für das im Sinne Collins biblisch fundierte Verständnis einer "größeren Diakonie" zeigen eine befreiungstheologische Grundtendenz.

Die folgenden drei Aufsätze von Dietzel, Dunderberg und Starnitzke setzen sich mit den Thesen von Collins und Benedict kritisch auseinander. Der finnische Neutestamentler Ismo Dunderberg kommt trotz seiner Kritik an Collins' Untersuchung zu folgenden Konklusionen: "Erstens bin ich aufgrund seiner Studie davon überzeugt, dass diakonia nicht unbedingt auf niedrige Aufgaben hinweist ... Zweitens, es ist nach Collins' Untersuchung nicht mehr glaubhaft, das bei Tisch aufwarten für die Grundbedeutung des Verbs diakonein zu halten; diese Bedeutung bildet nur einen, wenn auch ziemlich üblichen Aspekt in der Verwendung dieses Wortes. Drittens hat Collins m. E. darin Recht, dass diakonos nicht unbedingt auf eine jemandem untergeordnete Gestalt hinweist ... Viertens finde ich die These von Collins glaubhaft, dass das Verb diakonein in griechischen Texten für sich nicht auf Wohltätigkeit und niedrige Aufgaben hindeutet ..." (183). Der deutsche Neutestamentler Dierk Starnitzke kommt zu dem Ergebnis, dass die bekannte Übersetzung von diakonos mit Diener vor allem für die Evangelien plausibel sei im Sinne von "der bei Tisch Dienende" und einer existenziellen Haltung des Lebenseinsatzes. In Mk 10,45 par und Joh 12,26 werde jedoch deutlich, dass diese Haltung in der paradoxen Existenz Jesu Christi begründet sei. In den Paulusbriefen hingegen sei die Grundbedeutung Vermittler für diakonos vorherrschend, etwa im Sinne von Missionar oder Katechet. In anderen frühen christlichen Texten handele der dia- konos offenbar eher im Auftrag bestimmter Gemeinden oder einzelner Personen als auf Geheiß des episkopos. "Vielleicht kann man hier ... im eigentlichen Wortsinn den Begriff des Außenministers verwenden." (211)

Die sechs Probevorlesungen des zweiten Teiles wenden sich auf je spezifische Weise der Bedeutung theologischer Fundamente und Kompetenzen für die diakonische Handlungspraxis zu. Geht es bei Annette Noller, die auf die Professur berufen wurde, um die theologischen Qualitätselemente der Diakonie und fragt Beate Hofmann - mittlerweile Professorin für Gemeindepädagogik in Nürnberg - danach, ob Theologie für die Diakonie "Fundament oder Verzierung" sei, so bearbeitet die Professorin für Gemeindepädagogik in Darmstadt, Renate Zitt, den Komplex des diakonisch-sozialen Lernens an der Hochschule. Um Fragen des Berufsprofils und der Professionalisierung diakonischen Berufshandelns geht es in den Beiträgen von Lidwina Meyer, Thomas Schlag und Rainer Merz, dem Prorektor der Evangelischen Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg und Mitherausgeber. Gottfried Class' Aufsatz zur diakonischen Spiritualität versteht eine "Entgötzung als spirituelle Grundaufgabe" der Diakonie und arbeitet heraus, dass es für das theologische Profil der Diakonie relevant sei, Geschichten von der Würde des Lebens zu vermitteln, die Sprachform der Klage als Akt der Revolte wieder zu entdecken und das Schöpfungslob als subversive Kraft gegen den "Bemächtigungswahn" einzusetzen.

Ein wenig aus dem Rahmen des Bandes fallen zwei Aufsätze. Der norwegische Professor für Diakonik und Ethik, Trygve Wyller, befasst sich mit der Frage, ob sich die These Max Webers, dass der asketische Protestantismus den modernen Kapitalismus befördert habe, auf den Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus übertragen lasse. Dazu arbeitet er den Unterschied zwischen zwei norwegischen Konzepten der Pflegeethik der 1930er Jahre heraus. Der andere besondere Beitrag stammt von dem Direktor der Diakonischen Akademie Deutschland, Hanns-Stephan Haas. Er stellt das St. Galler Modell des Integrierten Personalmanagements nach Martin Hilb dar und versteht es als wertvolles Instrument für diakonische Unternehmen.

Der Sammelband verbindet sehr schön, was sowohl für die diakoniewissenschaftliche Forschung als auch für die Praxis der sozialen Arbeit in diakonischen Unternehmen und Berufen wesentlich ist: die kritische Rückbindung des diakonischen Handelns im Sozial- und Gesundheitswesen an die biblischen Quellen, theologische Grundlegung und ethische Reflexion. Die durch Ökonomisierungstendenzen herausgeforderte Diakonie benötigt heute vielleicht mehr denn je ein solch kritisches Korrektiv. Gerade die neuere Diskussion um den Diakoniebegriff in Auseinandersetzung mit Collins erweist sich m. E. als fruchtbar und anregend für die Diskussion darüber, was unter Diakonie zu verstehen sei und wie heute diakonisch gewirkt werden kann.