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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

514–518

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nida-Rümelin, Julian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch.

Verlag:

Stuttgart: Kröner 1996. VIII, 883 S. 8o. ISBN 3-520-43701-5.

Rezensent:

Martin Honecker

1. In diesem Handbuch haben 13 Autoren in 18 Beiträgen Themen und Probleme von Außenpolitik, Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Tierschutz, Technik, Journalismus und Wissenschaft aus der Sicht der philosophischen Ethik dargestellt und diskutiert. Das Handbuch enthält eine Fülle von Informationen und Argumenten. Die einzelnen Kapitel enthalten am Ende der Darstellung reichhaltige Literaturhinweise. Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis (864-873) und ein Personenregister (874-883) erschließen den Sammelband.

Ausgewiesene Sachkenner stellen jeweils ihr Sachgebiet dar. Dennoch, oder gerade deshalb, stellen sich bei der Lektüre einige grundsätzliche, fundamentalethische Fragen: Einmal ist das Verhältnis von theoretischer und angewandter Ethik klärungsbedüftig. Damit steht die Leistungsfähigkeit philosophischer Argumentationstypen und Argumentationsstrategien prinzipiell auf dem Prüfstand. Sodann ist schon die Frage, ob es um "angewandte" Ethik gehen soll - was besagt denn "Anwendung" in der Ethik überhaupt? - oder um Bereichsethik gehen soll, zu prüfen. Der Herausgeber umgeht dieses Problem elegant, indem er im Titel und Untertitel "Angewandte Ethik und Bereichsethiken" kombiniert. Unbestritten ist zunächst, daß eine angewandte Ethik oder Bereichsethik "gemischte" Ethik ist, gemischt aus empirischen Gegebenheiten und normativen Ansprüchen, Sollensätzen. Strittig ist hingegen die Zuordnung von Empirie und Sollen; damit wird fraglich, wieweit die Leistungsfähigkeit philosophischer Reflexion und Argumentation hier reicht. Auf diese Grundsatzfrage ist am Ende zurückzukommen. Erst dann ist auch der Überblick des Herausgebers über ethische Paradigmen, Begründungen und die Zuordnung von theoretischer und angewandter Ethik des Herausgebers zu berücksichtigen und kritisch zu würdigen, da sich die Schwierigkeiten und offenen Fragen erst nach der Übersicht über die einzelnen Bereiche genauer verdeutlichen lassen.

2. Nach der Einleitung des Herausgebers, der auf weniger als 70 Seiten 2000 Jahre Philosophiegeschichte zusammenfaßt, eröffnet der Beitrag von Herlinde Pauer-Studer "Ethik und Geschlechterdifferenz" (88-136) die Darstellung der Bereichsethiken. Hier stellt sich die prinzipielle Frage, ob eine "feministische Ethik" nur eine Bereichsethik ist oder vielmehr sehr viel prinzipieller einen anderen Ansatz von Ethik überhaupt einfordert. Ausgehend von Carol Gilligan’s Care-Ethik wird die angelsächsische Diskussion dargestellt und deren Auseinandersetzung mit David Hume, der Aktualisierung Kants und der Diskursethik reflektiert. Vier feministische Perspektiven in der angewandten Ethik (Schwangerschaftsabbruch, In-Vitro-Fertilisation, Gerechtigkeit in der Familie, Quotierung) runden den informativen Beitrag ab. Skizzenartig führt Julian Nida-Rümelin in die politische Ethik ein: "Ethik der politischen Institutionen I: Ethik der politischen Institutionen und Bürgerschaft" (129-153). In der Kürze von 12 Seiten Text können freilich weder die Geschichte der politischen Theorie (seit Aristoteles) , noch die Thematik politischer Institutionen (Machtordnung, Staat, Verfassung usw.) noch die alternativen Vorstellungen von Liberalismus, Kommunitarismus, Individualismus, Sozialismus usw. angemessen entfaltet werden. Begriffe wie Nation, Volk, Rechtsstaat, Grundrechtsschutz kommen nicht vor. Christine Chawszcza, "Politische Ethik II: Ethik der Internationalen Beziehungen" (155-198) zentriert ihre Überlegungen auf die Ansatzproblematik internationaler Ethik (internationaler Anarchismus, realistisches, partikularistisches Argument) und auf die Thematik von Krieg und Frieden (Kooperative Sicherheitspolitik, "ius in bello", Exkurs zum Problem der Migration). Das Fazit unter der Überschrift "Praktische Perspektiven" (190) ist ernüchternd: "Angesichts der Unterschiedlichkeit der theoretischen Ansätze und ihrer Begründungsstrategien, angesichts der Vagheit und des hohen Abstraktionsgrades vieler Positionen mag die Entwicklung einer normativ orientierten Außenpolitik als aussichtsloses Unterfangen erscheinen. Glücklicherweise trügt dieser Eindruck".

Die Prinzipien einer Begründung der Institutionalisierung der internationalen Beziehungen, welche eine universalistische Moral anbietet, bleibt allerdings merkwürdig formal und abstrakt. Man vermißt eine Berücksichtigung internationaler Institutionen (vor allem der Vereinten Nationen, aber auch die Europäische Einigung kommt nicht vor) und anderer internationaler Herausforderungen, wie der Folgen des Weltmarktes, der Globalisierung des Welthandels, die Bestreitung des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte, die Beachtung von Menschenrechtskonventionen, vor allem der Sozialrechte, der Globalisierung der Umweltkrise, des Bevölkerungswachstums, des Welthungers usw. Alle diese Probleme sind freilich nicht allein durch rationale Reflexion politischer Philosophie zu lösen. Die Beiträge zur "Politischen Ethik" enthalten erhebliche Lücken bei der Problemwahrnehmung.

Dietmar v. d. Pfordten "Rechtsethik" (204-289) gibt einen weit ausgreifenden Überblick vor allem der angelsächsischen Diskussion zur Zuordnung der Rechtsethik zur Rechtswissenschaft und Rechtstheorie, zur problematischen Dichotomisierung von Naturrecht und Rechtspositivismus und über materiale Theorien der Rechtsethik. Als konkrete Anwendungsbereiche der Rechtsethik werden benannt: Rechtsbefolgung: Ziviler Ungehorsam und Widerstand; Menschenrechte; Straftheorien; Berufsethos der Juristen; Die Berücksichtigung der nicht-menschlichen Natur durch das Recht. Da sich hier Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre als Gesprächspartner anbieten und die angelsächsische Debatte zum Verhältnis von Moral und Recht (213 ff.) umfassend dargestellt wird, ist das Kapitel gelungen. Dasselbe gilt für das Kapitel von Walther C. Zimmerli und Michael Aßländer "Wirtschaftsethik" (291-344), in welchem ebenfalls die unterschiedlichen Ansätze vorgestellt, einzelne Aspekte (Marketingethik, Managementethik, Ethikkodizes und Unternehmensverfassungen) erörtert werden und das Verhältnis von wirtschaftlicher Realität und ökonomischer Rationalität thematisiert ist.

Die ökologische Ethik ist wieder durch zwei Beiträge vertreten: Angelika Krebs, "Ökologische Ethik I: Grundlagen und Grundbegriffe" (347-385) gibt eine Zusammenfassung ihrer Dissertation "Ethics of Nature" wieder, in der sie eine pathozentrische Position vertritt. Die anthropozentrischen und physiozentrischen Argumente sind detailliert aufgelistet. Anton Leist "Ökologische Ethik II: Gerechtigkeit, Ökonomie, Politik" (388-456) zweifelt die pathozentrische Position an. Leist zeigt die Schwierigkeiten ökologischer Gerechtigkeit eindringlich auf, mit rationalen Begründungen Verantwortung für künftige Generationen einzufordern. Ferner benennt er die Spannungen zwischen Ökonomie und Ökologie im einzelnen und formuliert die Einwände und offenen Fragen zu normativen Grundlagen der ökologischen Politik. Das Kapitel ist eine genau erarbeitete Spezialstudie.

Auch die Tierethik wird in zwei Kapiteln erörtert. Julian Nida-Rümelin, "Tierethik I: Zu den philosophischen und ethischen Grundarten des Tierschutzes" (459-483) befaßt sich mit dem moralischen Status von Tieren grundsätzlich. Julian Nida-Rümelin und Dietmar v. d. Pfordten, "Tierethik II: Zu den ethischen Grundlagen des Deutschen Tierschutzgesetzes" (485-509) ist die gekürzte Version einer Stellungnahme vor dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Deutschen Bundestages. Sehr komprimiert und knapp gefaßt ist Bernhard Irrgang, "Genethik" (512-551). Die Problemfelder wie die Anwendung der Gentechnologie in Pflanzenzucht und Tierzucht, der Humangenetik mit Genomanalyse, pränataler Diagnostik somatischer Gentherapie und Keimbahntherapie sind zusammengestellt. Die ethische Wertung erfolgt stichwortartig in Handlungsregeln, klingt apodiktisch und ist in den Begründungen eher karg gehalten.

Vorzüglich ist das Kapitel "Medizinethik" von Bettina Schöne-Seifert (553-681), das abwägend die moderne Entwicklung, die Diskussion in den USA, die Fragen von Patientenautonomie, Paternalismus, Aufklärung und Einwilligung und Humanexperimente erörtert. Den Abschluß bilden konkrete Themen wie "Zum Umgang mit Tod und Sterben", Organtransplantationen, Fortpflanzungsmedizin und Schwangerschaftsabbruch, Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Das Kapitel setzt Maßstäbe, die nicht in allen Beiträgen des Handbuchs erreicht werden. Gelungen ist ebenfalls das Kapitel "Technik und Ethik" von Konrad Ott (652-717). In historischer Darstellung werden philosophische Deutungen der Technik seit Hegel und Marx und gegenwärtige Ansätze referiert. Standeskodizes, Technologiefolgeabschätzungs-Konzepte und systemanalytische und philosophische Untersuchung zur bemannten Raumfahrt (SAPHIR) werden auf Ethik bezogen. Technikhistorie und Technologiefolgeabschätzung sind gut mit Ethik kombiniert.

Die Wissensethik (oder Wissenschaftsethik) wird wiederum in drei Kapitel mit unterschiedlichen Ansätzen bedacht: Helmut F. Spinner, "Wissensordnung, Ethik, Wissenschaft" (720-749) leitet aus der Unzulänglichkeit einer individualistischen Wissensethik das Erfordernis einer Wissensordnung ab. Das Kapitel ist ausgesprochen wissenschaftstheoretisch angelegt und mit Belegen und Differenzierungen fast überfrachtet. Das Kapitel von Will Teichert, "Journalistische Verantwortung: Medienethik als Qualitätsproblem" (751-776) schildert eindrücklich die ethischen Probleme, welche aus den Rahmenbedingungen der journalistischen Arbeit folgen, und die Schwierigkeit einer Medienordnung und eines Medienrechtes. Krisensymptome des Journalismus sind allgemein bekannt. Mit Vorwürfen wie "Skandaljournalismus" (oder "Schweinejournalismus", "Hinrichtungsjournalismus") sind sie jedoch nicht zu beheben. Der Überblick über Probleme und Schwächen publizistischer Selbstkontrolle und "poröser" journalistischer Qualitätsnormen werden ernüchternd beschrieben. Julian Nida-Rümelin "Wissenschaftsethik" (779-805) bedenkt in Form eines Essays das "Ethos epistemischer Rationalität", die Idee des Gemeinbesitzes wissenschaftlichen Wissens und deren Hemmungen durch die Realität. Im Ethos wissenschaftlicher Verantwortung (786 ff.) scheint die Rationalitätsidee durch.

Man vermißt in diesem Kapitel freilich den Namen Georg Picht und dessen Analyse der Konstitutions- und Produktionsbedingungen neuzeitlicher Wissenschaft in Großforschungseinrichtungen, wie ein Bedenken des Prozesses theoretischer Neugierde und seiner Strittigkeit. Die rein philosophische Analyse von Wissenschaftsethik, die vom kulturellen und gesellschaftlichen Rahmen absieht, greift daher teilweise zu kurz.

Julian Nida-Rümelin, "Ethik des Risikos" (807-830) ist die Tonbandnachschrift eines Vortrags vor der Akademie für Technologiefolgenabschätzung. Die sozialwissenschaftliche Risikodebatte wird gestreift; eine rationale, nicht-konsequentialistische Ethik des Risikos (822 ff.) wird angestrebt, welche die subjektiven Rechte der Betroffenen achtet. - An dieser Stelle wird erneut ein Defizit sichtbar: Es fehlt eine Erörterung der mit der Vorstellung von Risiko verbundenen modernen lebensweltlichen Gegebenheiten wie Energieverbrauch, Kernenergie, Klimakatastrophe, Ressourcenverbrauch. Statt der Analyse der kontroversen Fragen werden Reflexionen zum Bewußtsein von Risiko geboten und zu einer demokratisch verträglichen Risikosteuerung.

Der letzte Beitrag Julian Nida-Rümelins, "Wert des Lebens" (833-861) gehört in das Kapitel Medizinethik. Er ist eigentlich kein Beispiel angewandter Ethik, sondern enthält eine theoretische Überlegung, die gegen P. Singers Präferenzutilitarismus unabhängig von religiösen Vorgaben ("Heiligkeit des Lebens") einen objektiven Wert des Lebens aus deontologischer Perspektive (855 ff.) festzuhalten und zu erweisen sucht Hier schlägt nochmals der eigene philosophische Standpunkt des Herausgebers durch.

Der Überblick über die einzelnen Kapitel gibt viele neue und glänzend dargebotene Einblicke, zeigt aber auch wie uneinheitlich die Konzeption und Anlage des Handbuchs im Ganzen ist. Am überzeugendsten sind die Teile, in denen der fachwissenschaftliche Problemstand genau erfaßt wird und die fachphilosophische Diskussion dargestellt wird (z. B. Rechtsethik, Medizinische Ethik, Wirtschaftsethik, Technikethik). In Kapiteln hingegen, in denen der eigene philosophische Standpunkt leitend ist und Probleme eher essayistisch behandelt werden, ist der Informationsgehalt geringer. Ungelöst ist nämlich die Grundfrage, was "Anwendung" in der Ethik und für die Ethik überhaupt meint.

3. Enthält das Handbuch eine Ethik der Anwendung oder eine Bereichsethik? Der Leitbegriff "Anwendung" ist mehrdeutig. Formal heißt Anwendung: A wendet B auf C an. Unter A kann man den Anwender unterscheiden nach unmittelbar Handelndem (Akteur) und nachträglich reflektierenden Beurteiler. Ist mit Anwender der Handelnde oder der Ethiker, der Nachdenkende gemeint? Unter B, dem Gegenstand der Anwendung, kann man sowohl (a) Regeln, Imperative, als auch (b) Paradigmen, Leitbilder, Handlungsmuster verstehen als auch (c) Gewohnheiten, Konventionen, Bewährtes als auch schließlich (d) zeitlose Werte. Und schließlich ist der Bezug von Anwendung mehrdeutig (c.). Die Anwendung kann sich beziehen auf (a) vergleichbare Situationen, auf Topoi, oder (b) auf Handlungstypen oder sie kann schließlich (c) eine Vorzugswahl, ein Ermitteln von Präferenzen anstreben. Der Begriff "Anwendung" ist somit ein Sammelbegriff. Genauer wären bereits Begriffe wie Konkretisierung oder Spezifizierung, also konkrete Ethik oder spezielle Ethik. Der Terminus "Bereichsethik" ist demgegenüber deutlicher: Es geht um ethische Fragestellungen in Lebensbereichen wie Medizin, Technik, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Recht. Die Kapitel zu abgrenzbaren Bereichsethiken sind allein schon deswegen überzeugender, weil sich hier Sachanforderungen mit normativen Überlegungen verbinden. Die "Anwendung" auf bereichsunspezifische Themen wie Risiko, Wissen oder Wert des Lebens macht dagegen einen vageren Eindruck.

In einer Bereichsethik sind sowohl Sachkenntnis als auch ethisches Urteilsvermögen, normative Überlegungen notwendig. Es geht um Kompetenz und um Verantwortung innerhalb eines Bereichs. Bereichsethik kann insofern an Traditionen einer Berufsethik und eines Berufsethos anknüpfen. Berufliche Qualifikation ersetzt beim Richter, Arzt, Politiker nicht bereits die Inanspruchnahme einer bestimmbaren Verantwortlichkeit. Bereichsethik überschneidet sich, besonders signifikant in der medizinischen Ethik, mit der Konzeption einer Berufsethik. Über ein Berufsethos als individualisiertes Standesethos hinaus berücksichtigt sie freilich kollektive Verantwortungszusammenhänge, "shared responsibility" in einem Handlungsbereich. Biomedizinische Ethik beispielsweise thematisiert nicht nur die ärztliche Verantwortung in der Arzt-Patienten-Beziehung, sondern auch normative Ansprüche an Forscher, Pflegekräfte usw. Eine Bereichsethik hat ferner Institutionen, die Verfaßtheit eines Lebensgebietes, Handlungsstrukturen zu bedenken. Sie kann nicht nur Anwendung ethischer Prinzipien beinhalten, sondern hat den institutionellen Rahmen wie die zu schützenden und zu gestaltenden Güter und Ziele zu reflektieren. Bereichsethik ist damit immer auch Güterethik. Die Weite und Unbestimmtheit des Wortes "Anwendung" eröffnet viele Deutungen, lädt aber auch zu Vagheit und Abstraktion ein.

4. Die Problematik der "Anwendung" führt letztlich zurück auf Grundlagenfragen. Die Absicht des Handbuchs ist es, Ethik, "die Theorie des richtigen Handelns" (Vorwort VII), auf Entscheidungssituationen zu beziehen und in Bereichsethiken auszudifferenzieren. "Ethische Klärung dient der Rationalisierung praktischer Stellungnahmen. An die Stelle der bloßen Entscheidung und Meinungsäußerung treten begründete Handlungen und Überzeugungen" (VIII). Das erste Kapitel von Julian Nida-Rümelin, "Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche" (3-85) widmet sich folglich der ethischen Theorie. In einem Parforce-Ritt durch Philosophiegeschichte (seit Aristoteles, Plato bis zur neueren angelsächsischen Diskussion) und Konzeption von Begründungsverfahren werden fünf Paradigmen erörtert: Das utilitaristische, das kantische (deontologische), das kontraktualistische (Rawls), das individualrechtliche (Libertarismus) und das tugendethische Paradigma. Vorlieben und Abneigungen des Verfassers sind unübersehbar. Das utilitaristische und kantische Paradigma wird wegen seines Rationalitätspostulats geschätzt; die neo-aristotelische Kritik hingegen trägt häufig "traditionalistische Züge" (5); Tugendethik (7.) und Kommunitarismus gelten als vernünftig "schwach" begründet. Das Ergebnis der Durchmusterung der Begründung ist, daß ebenfalls der radikale epistemologische Rationalismus (z. B. der universale Präskriptivismus von Hare, 41) der Komplexität der Sachverhalte nicht gerecht wird. Die Folge ist ein Pluralismus von "Begründungen" (44ff.). Dazu kommt die Beobachtung: "Wissenschaftliche Theorien spielen für unser Alltagswissen nur eine untergeordnete Rolle" (42). So ist es. Rationalistische Systementwürfe sind denn auch gescheitert; die Ableitung angewandter Ethik aus einem ethischen Prinzip, das selbstevident sein soll (57), ist fragwürdig; den Beleg dafür bieten die Kontroversen um Peter Singers Präferenzutilitarismus (69).

Nida-Rümelin spricht selbst von einer "Grundlagenkrise der ethischen Theorie" (63). Nach der offenen Begründungsfrage wendet er sich abschließend den Problemen der Bereichsethik zu (63 ff.) und verteidigt angesichts von Ethikskepsis und "fundamentalistischer" Kritik an einer rationalen Abwägungen von Handlungsfolgen - sowohl bei linken, marxistischen Gesellschaftskritikern als auch bei konservativen Zeitkritikern - den Vernunftanspruch: "Angewandte Ethik ist, wie die Philosophie generell, ein Projekt der Aufklärung, und als solches muß es sich gegen diese irrationalistischen Zangenbewegungen behaupten. Zugleich aber darf der Diskurs angewandter Ethik nicht der rationalistischen Versuchung einer Neuerfindung des Moralischen erliegen". Gegen die "rationalistische Versuchung" spricht zudem "die Komplexität und die Differenziertheit moralischer Urteilsfindung, die sich in den Deduktionen eines einzigen, axiomatisch gesetzten Prinzips nicht adäquat erfassen lassen" (69). Trifft diese These zu, so stellen sich allerdings einige grundsätzliche Anfragen:

a) Gerade die Bereichsethiken zeigen, daß sich "sola ratione" eine Theorie des richtigen Handelns nicht konstruieren läßt. Vernunft ist zwar ein unverzichtbares Mittel von Verständigung, aber nicht ein Prinzip, aus dem einzelne Handlungsnormen abzuleiten sind. Ist aber die Vernunft nicht die "Quelle" der Ethik, dann ist zu bedenken, welche Bedeutung Kultur, geschichtliche Erfahrung, der Kontext im Lebensbereich, das gesellschaftliche Umfeld für die ethische Urteilsfindung haben. Neben die Ethik tritt das Ethos als Orientierungshilfe und identitätsstiftende Verhaltensordnung, welche die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft symbolisiert und Sozialität im Handeln regelt. b) Wenn die Konkretion, die "Anwendung" in einer Bereichsethik angesichts des Pluralismus von ethischen Begründungskonzepten von der jeweiligen Begründung relativ unabhängig ist und mit dieser nur lose verbunden bleibt, welche Bedeutung haben dann ethische Theorien überhaupt für die konkrete Handlungsempfehlung? Angesichts der einzelnen Kapitel zur Bereichsethik wäre nochmals nachträglich der handlungsleitende Gehalt ethischer Theorie prinzipiell zu überprüfen. Das Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Ethik ist größer, als es das Einleitungskapitel erkennen läßt. Implizit setzt dieses Kapitel nämlich eine Anthropologie voraus, die den Menschen ausschließlich als Vernunftwesen betrachtet. c) Wird diese Anthropologie schließlich hinterfragt und angezweifelt unter der Fragestellung, welche Bedeutung Affekte (wie Liebe) Gewissen, Herz für die Wahrnehmung ethischer Verantwortung haben, dann werden neben Kultur auch Religion, Glaube, Lebensstil und Lebensführung für die Gestaltung von Lebensbereichen bedeutsam und wichtig. Theologische Ethik ist dann herausgefordert, in eine Auseinandersetzung mit dieser theoretischen Fundierung der angewandten Ethik einzutreten und deren Prämissen und Hintergrundannahmen freizulegen.

Für Information und Anleitung zur Urteilsbildung in den jeweiligen Bereichsethiken enthält das Handbuch eine Fülle unverzichtbare Informationen und Argumente. Es ist in dieser Hinsicht ein Standardwerk, das Maßstäbe setzt.