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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1114–1116

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Claudy, Tobias

Titel/Untertitel:

Die Gegenwart - das unentdeckte Land. Systematisch-theologische Hermeneutik populärer Filmkultur.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 194 S. gr.8 = Theologie - Kultur - Hermeneutik, 2. Geb. Euro 34,00. ISBN 3-374-02271-5.

Rezensent:

Ingo Reuter

Claudy bemüht sich um einen systematisch-theologischen Zugang zu Phänomenen der populären Kultur, der die analysierten Phänomene möglichst vorurteilsfrei in den Blick nimmt, da es sich bei den Phänomenen - hier den Filmen - um "Ausdrucksformen schon vorhandener und vollzogener Lebensdeutung der Gegenwart" (8) handelt, die als solche ernst genommen werden müssen, ohne vorschnell lediglich als Projektionsfläche dogmatischer oder religionspädagogischer Absichten und Voreinstellungen missbraucht zu werden. C. definiert Glauben als "Vergewisserung der eigenen Existenz" (17 ff.), wobei er sich inhaltlich auf den Heidelberger Katechismus bezieht und als theologisch-inhaltlichen Ausgangspunkt seiner Untersuchung "das Eingeständnis der Unverfügbarkeit der Erfüllung des eigenen Daseins, welche ausschließlich als punktuelle Erfahrung von Sinn und Getragensein im vorbehaltlosen Aufgehen in der Gegenwärtigkeit zugänglich ist" (26), formuliert.

Systematisch-theologische Vergewisserung und Abgrenzung sucht C. im Folgenden bei P. Tillich, R. Bultmann und W. Elert, wobei er zum einen die Gemeinsamkeiten im kulturhermeneutischen Interesse herausarbeitet, zum anderen die Differenzen aufzeigt, die darin liegen, dass es ihm um eine "in konzentrischen Wahrnehmungskreisen vom Individuum und seinen Fragen her" (43) denkende Zugangsweise geht, während die genannten Autoren angeblich je auf ihre Weise in ontologisch-dogmatischen Voraussetzungen verhaftet bleiben, die das Ergebnis ihrer Untersuchungen von vornherein zumindest zum Teil determinieren.

C. definiert seinen kulturhermeneutischen Zugang im Folgenden knapp als "induktiv" (48), der seinen Anfang "beim Untersuchungsgegenstand selbst" (48) nimmt, im Gegensatz zu einem "deduktiven" (48) Verfahren, das durch das "hierarchisch ableitbare Verhältnis zu Autoritäten" (48) gesteuert wird. Stattdessen soll man sich dem "Rohmaterial zunächst möglichst unvoreingenommen" (49) nähern und "mit empathisch geleitetem Nachvollzug gerecht" (49) werden.

Dieses Verfahren führt er im Folgenden anhand einer Auswahl von populären Filmen durch, wobei er sich vorher insbesondere gegen eine Reihe praktisch-theologischer Analysen populärkultureller Phänomene abgrenzt. Die Filmanalyse ergibt zwei unterschiedliche Heldenschemata, die darin konvergieren, dass sie "Leben als Bereitschaft" verstehen und dass die "individuelle Existenz der eigentlichen Erfüllung (eher: Bewährung) noch harrt" (161). Dies lehnt C. aus der Position einer präsentischen Eschatologie ab, da solche Daseinsinterpretationen "keinen sinnvollen Zugang zum einzigen Sein des Menschen bieten, das ihm ... geschenkt und aufgegeben ist: die gegenwärtige Existenz" (161). Statt dessen soll der Mensch aus einer Haltung der "Gelassenheit" (170) heraus, die sich auf die Gegenwart einlässt, "echte Fragen" stellen und "verantwortungsbewusst (echtes ethisches Tun)" (168) handeln.

C.s Versuch, eine Hermeneutik populärer Kultur zu entwickeln, die dogmatische Verengungen vermeidet und die populärkulturellen Phänomene möglichst vorurteilsfrei betrachtet und in ihrer Weltdeutung zu ihrem Recht kommen lässt, ist einerseits zu begrüßen. Andererseits muss man doch auch festhalten, dass das Problem so nicht zu lösen ist. C.s Darstellung seiner kulturhermeneutischen Methode beschränkt sich im Grunde auf die Beteuerung, sich "möglichst neugierig und unvoreingenommen fragend" (20) auf die Phänomene einlassen zu wollen. Damit ist aber noch keine Methode befolgt und die Gefahr eines nicht reflektierten Eintragens impliziter Voraussetzungen der Analyse ist größer, als wenn man von vornherein einen spezifischen hermeneutischen Zugang offen gelegt hätte. Die Fußnote auf S. 20, in der kurz erwähnt wird, dass es keine voraussetzungslose Wahrnehmung geben könne, reicht hier nicht aus, wenn C. schließlich in Abgrenzung zu verschiedenen anderen Ansätzen die methodische Auffassung vertritt: "Sie suchen gezielt, wo diese Untersuchung bereit ist, schlicht zu finden." (82) C.s hermeneutische Lösung kann letztendlich nicht überzeugen, da sie am Ende ja doch die existentiale Voraussetzung, die vorher gemacht wurde (erfülltes Leben ereignet sich in der Gegenwart), kritisch auf die analysierten Filme anwendet.

An sich kann man das durchaus machen. Unklar ist dann allerdings, wieso praktisch alle anderen Versuche, sich populärer Kultur anzunähern, als "ignorant" (84), "auf inzestuösen Reflexionsstrukturen" (84) basierend, "in Wühltischmanier" (20) sich bei der populären Kultur bedienend, "autoritätsgläubig" (27), "erfahrungsverachtend" (27), "passiv-pietistisch" (23), gar "unter das Niveau der Wissenschaftlichkeit" (82) absinkend abqualifiziert werden.

Die Filmanalysen selbst hätten durchaus vom Einbezug z. B. Voglers "Odyssee des Drehbuchschreibers" oder der Untersuchungen Campbells profitieren können. Auch ist mit dem Aufzeigen eines anhand der Filme interpretationsmöglichen Existenzkonzepts die Frage nach der Rezeption der Filme noch nicht beantwortet. Wird der Zuschauer die Filme im Sinne der C.schen Interpretation verstehen - und damit seine Existenz missverstehen - oder wird er vielleicht anders, eventuell realistischer mit dem Dargebotenen umgehen?

Summa summarum: C.s Buch setzt an einem wichtigen Punkt an, der Frage nach einer verantworteten theologischen Hermeneutik des populären Films. Eine tragfähige Lösung des Problems ist mit diesem Ansatz für den Rezensenten noch nicht erkennbar.