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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1112–1114

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Reckermann, Alfons

Titel/Untertitel:

Lesarten der Philosophie Nietzsches. Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960-2000.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XVI, 336 S. gr.8 = de Gruyter Studienbuch. Kart. Euro 4,95. ISBN 3-11-017451-0.

Rezensent:

Andreas Urs Sommer

Nietzsche ist in unterschiedlichsten Hinsichten und unter unterschiedlichsten Etiketten von nachhaltiger Wirkmächtigkeit. Kaum ein philosophisches Werk hat im 20. Jh. zu derart konträren Interpretationen Anlass gegeben wie das seine. Dabei blieb diese Auseinandersetzung keineswegs auf akademische Schuldebatten beschränkt. Sie hat im Gegenteil nicht nur ihren Ausgang genommen bei außerakademischen Diskussionen über die Zukunft von Kultur und Zivilisation, sondern wird heute - insbesondere in den USA - noch ausgetragen, um Ansprüche auf kulturelle und politische Deutungshoheiten geltend zu machen oder wahlweise zu unterminieren. Wenn Nietzsche den Menschen als das "noch nicht festgestellte Thier" (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 62) präsentiert, so erscheint er selbst heute mehr denn je als der noch nicht festgestellte Philosoph. Wie soll man nun mit einem Werk umgehen, das zu einer solchermaßen irritierenden Fülle von Interpretationen Anlass gibt? Entweder wird man unbekümmert um bisherige Interpretationsbemühungen zu den originalen Texten zurückkehren und trotzig behaupten, die Masse an Interpretationen verstelle nur den Zugang zum Original. Oder aber man arbeitet sich im Bewusstsein, dass unser Zugang zum vermeintlichen Original immer schon durch vorangegangene Deutungen und überlieferte Vorurteile bestimmt wird, emsig selbst durch den Berg des bereits über Nietzsche Gedachten und Gesagten hindurch. Angesichts der Höhe dieses Berges ist dies ein Unterfangen, das leicht die gesamte Lese- und Lebenszeit eines Menschen verschlingt.

Nun gibt es aber noch eine dritte Möglichkeit, und zwar, sich mit berechenbarem Zeitaufwand die markanten Nietzsche-Interpretationen zu vergegenwärtigen, indem man eine Darstellung der "Lesarten der Philosophie Nietzsches" studiert. War man zu solcher Vergegenwärtigung bislang auf Forschungsübersichten am Anfang anderer Interpretationen angewiesen, die das Vergegenwärtigte nach ihren eigenen interpretatorischen Interessen zurichteten und also nur bedingt verlässlich waren, werden in dem hier anzuzeigenden Buch die philosophischen Interpretationen Nietzsches in Frankreich, in Italien und im angelsächsischen Raum seit etwa 1960 um ihrer selbst willen präsentiert. Alfons Reckermanns vorzügliches Werk erlaubt endlich eine risikofreie Wahl der dritten genannten Möglichkeit, wird hier doch souverän und mit genauer Kenntnis des gesamten einschlägigen Schrifttums die feine Textur der internationalen Nietzsche-Diskussion vor Augen geführt und dabei jedem einzelnen Autor die ihm gebührende, behutsame Aufmerksamkeit zuteil. R. liegt nichts ferner, als seine eigene Nietzsche-Interpretation gegen die von ihm vorgestellten Interpretationen zu setzen; manchmal geht seine Interpretationsaskese sogar so weit, dass sich der Leser fragt, wer eigentlich spricht, wenn sich R. ganz dem Duktus der von ihm dargestellten Autoren anpasst. Das Buch mit seiner Vielzahl erhellender Einblicke in das Nietzsche-Deutungsspektrum, seiner Detailgenauigkeit und seiner Unbefangenheit im Überblick erweckt den Eindruck, als habe sein Verfasser einen Gutteil der eigenen Lebens- und Lesezeit geopfert, damit viele andere davon entbunden sind, die das Wesentliche in nuce bei R. finden. Entsprechend ist die Edition des Werkes auch in einer preisgünstigen Studienbuch-Ausgabe sehr zu begrüßen.

Zu Beginn führt R. die Unterscheidung zwischen "einer eher historisch orientierten Nietzsche-Forschung im engeren Sinn und einer eher philosophisch-systematischen Nietzsche-Diskussion" (IX) ein. Für sein Buch kommen nur diejenigen Interpretationen in Betracht, die nicht im Feld der bloß historischen Nietzsche-Forschung verbleiben, sondern "sich entweder um ein Verständnis der originär philosophischen oder prinzipientheoretischen Dimension des nietzscheschen Denkens bemühen oder auf Komponenten seines Denkenes verweisen, die in einer Gesamtdeutung der Philosophie Nietzsches eine entscheidende Rolle spielen" (VIII f.). Was oder wer dieses Kriterium erfüllt, liegt freilich im Ermessen R.s. Meist sind seine Entscheidungen gut nachvollziehbar - selbstverständlich gebührt Mazzino Montinari, dem federführenden Herausgeber der Kritischen Nietzsche-Gesamtausgabe, ein prominenter Platz innerhalb des Italien betreffenden Teils (108-111), obwohl Montinaris Deutung wesentlich historisch interessiert ist. Im Falle von George J. Stack, der sich vor allem um die Kontextualisierung Nietzsches im Materialismus-Diskurs des 19. Jh.s verdient gemacht hat, wird man vielleicht etwas mehr Schwierigkeiten haben, die Gründe für seine Aufnahme zu verstehen (196-199), wenn man andere, systematisch sehr ambitionierte jüngere Nietzsche-Interpreten wie beispielsweise Tyler T. Roberts (Contesting Spirit. Nietzsche, Affirmation, Religion, Princeton 1998) dafür vermissen muss. Jüngst erschienene Diskussionsübersichten konnte R. nicht mehr berücksichtigen (M. Bretz/D. V. Hofmann: Nietzsche Now. Zum Stand der amerikanischen Nietzsche-Forschung, in: Nietzsche-Studien, Bd. 29 [2000], 332- 354; diess.: Französische Neuerscheinungen zur Nietzsche- Forschung, in: Nietzsche-Studien, Bd. 32 [2003], 453-488; A. Venturelli: Jenseits des schwachen Denkens? Perspektiven der gegenwärtigen italienischen Nietzsche-Forschung, in: Nietzsche-Studien, Bd. 31 [2002], 321-332).

Dass Hinweise auf Nietzsche-Interpreten unterbleiben, die zwar außerhalb der englischsprachigen Welt tätig sind, aber auf Englisch publizieren (wie etwa der Niederländer Paul J. M. van Tongeren), hat wohl unmittelbar damit zu tun, dass R. die verschiedenen Nietzsche-Interpretationen nicht einfach schematisch aneinanderreiht, sondern ihre Darstellung in enge Beziehung zu den übergreifenden philosophischen Diskursen Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und der USA setzt. Minutiös zeichnet er die Bedingungen nach, die jeweils zu landesspezifischen Nietzsche-Adaptionen geführt haben. Es gelingt ihm zu zeigen, wie sehr Nietzsche als Katalysator in grundlegenden Gegenwartsdebatten wirkt: in Frankreich zunächst poststrukturalistisch als Differenzphilosoph, danach als Psychologe, Ontologe und Metaphysiker; in Italien als Radikalaufklärer und Radikalhermeneutiker (im leider sehr knapp ausgefallenen Italien-Teil hätte man sich noch Erläuterungen zur Nietzsche-Deutung des einflussreichen Neuparmenideers Emanuele Severino und zu den wichtigen jüngeren Autoren gewünscht); in den USA und in Großbritannien als ein die analytische Tradition konterkarierender Epistemologe, als ironischer Selbsterschaffungs-Ästhetiker, als praktischer und schließlich insbesondere als politischer Philosoph. Überblickt man das von R. gegebene Panorama, wird man feststellen, dass die Inkulturation Nietzsches in den amerikanischen Gegenwartsdebatten am intensivsten und vielgestaltigsten ist, während trotz Dekonstruktion die Nietzsche-Rezeption etwa in Frankreich noch immer stark auf Nietzsches so genannte Hauptlehren Wille zur Macht, Ewige Wiederkunft und Übermensch fixiert bleibt. Man könnte den Verdacht hegen, die Vielgestaltigkeit des amerikanischen Nietzsche habe unmittelbar mit der auf Englisch noch immer desolaten Übersetzungssitutation von Nietzsches Werk, insbesondere des Nachlasses zu tun: Sie gibt Lizenz für alle Deutungen.

R. hat ein hervorragendes, künftig unentbehrliches Buch geschrieben. Bleibt zu hoffen, dass eine ähnliche Aufarbeitung dereinst der deutschsprachigen Nietzsche-Interpretationen zuteil wird.