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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1109–1112

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

1) Mendelssohn, Moses 2) Mendelssohn, Moses 3) Mendelssohn, Moses

Titel/Untertitel:

1) Briefe, die neueste Litteratur betreffend 4. Januar 1759 - 4. Juli 1765. Kommentare und Anmerkungen. Bearb. v. E. J. Engel. M. Beiträgen v. M. Albrecht, E. Blakert u. H. Lausch. 2 Teilbde.

2) Hebräische Schriften I. Deutsche Übertragung. Bearb. v. M. Brocke, D. Krochmalnik, A. Schatz u. R. Wenzel. M. Beiträgen v. R. Michael u. H. Simon.

3) Rezensionsartikel in Allgemeine deutsche Bibliothek (1765-1784). Literarische Fragmente. Kommentare. Bearb. v. E. J. Engel. M. Beiträgen v. M. Albrecht u. E. Blakert.

Verlag:

1) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004. Teilbd. a: XXVI, 534 S. m. Abb. Teilbd. b: XVI, S. 537-855. 8 = Moses Mendelssohn Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, 5/3 a u. 5/3b. Lw. Euro 318,00. ISBN 3-7728-1353-4.

2) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004. XCIV, 503 S. 8 = Moses Mendelssohn Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, 20/1. Lw. Euro 219,00. ISBN 3-7728-1517-0.

3) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2003. XX, 506 S. 8 = Moses Mendelssohn Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, 5/4. Lw. Euro 159,00. ISBN 3-7728-2020-4.

Rezensent:

Harald Schultze

Die Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften von Moses Mendelssohn (= JubA) konnte jetzt endlich um entscheidende Bände erweitert werden. Eva Engel betreute die Jubiläumsausgabe zunächst gemeinsam mit Alexander Altmann, seit dessen Tode allein. Durch Jahrzehnte hat sie mit außerordentlicher Energie und bewundernswerter Sachkenntnis die Weiterarbeit betrieben, mit einer kleinen Schar von Mitarbeitern die immense Arbeit der Kommentierung geleistet. Während die Textbände 5/1 und 5/2 mit den Mendelssohnschen Beiträgen in den Briefen, die neueste Literatur betreffend (1759-1765) und der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1765-1784) bereits 1991 vorlagen, konnten die Kommentarbände erst 2003 und 2004 publiziert werden. Gewiss hatte die ungemein gründliche Einleitung zu den beiden Textbänden bereits über Entstehungsprozess und Verfasserschaft der Rezensionsartikel orientiert und Entscheidungen der Herausgeberin erläutert. Doch fehlten die Sacherläuterungen in den Anmerkungen, vor allem aber die nun ebenfalls umfangreichen Einführungstexte zu den einzelnen Rezensionen. Die wenigen eigenen Beiträge der Mitarbeiter Michael Albrecht, Elisabeth Blakert und Hans Lausch sind namentlich gezeichnet; alle anderen Einführungen, Kommentierungen und Anmerkungen sind von Eva J. Engel verfasst worden.

Damit werden die Bände 5/1 bis 5/4 der JubA zur Fundgrube für Literaturwissenschaft und Philosophiegeschichte, aber auch für Theologen und Judaisten. Bestand doch die Aufgabe, die sich Mendelssohn, in der Anfangszeit auch Lessing, insbesondere aber Friedrich Nicolai als Mitautor und Buchhändler gestellt hatten, darin, eine kritische Übersicht über die Fortentwicklungen auf den Gebieten der Literatur und der Historiographie, der Philosophie und Theologie zu geben. Zugleich waren sie bemüht, auch wesentliche Neuerscheinungen der westeuropäischen Länder vorzustellen. Diese beiden Rezensionswerke sind Meilensteine für den Fortgang der Aufklärung in Deutschland.

Mit dem ersten Band der Übertragungen der Hebräischen Schriften (JubA 20/1) erhält die JubA eine höchst wichtige Bereicherung: hier werden hebräisch geschriebene Werke Mendelssohns, die in Band 14 der JubA bereits 1938 erschienen, zum Teil erstmalig in deutscher Übersetzung vorgelegt. Einige Kapitel aus Mendelssohns Kommentar zur Logik des Maimonides waren bereits in Band 2 JubA von Leo Strauss aufgenommen worden; Band 20/1 enthält den gesamten Text in Übersetzung und Kommentierung von Rainer Wenzel. Der Kohelet-Kommentar wird in der Übersetzung von Johann Jacob Rabe (1771) geboten. Sodann wurden hebräische Begleittexte zur Pentateuch-Übersetzung Mendelssohns in Übersetzungen von R. Wenzel und Andrea Schatz sowie von Christian Gottlob Meyer (Vorrede von Dubno im Prospekt des Werkes, 1780) aufgenommen. Die Pränumerantenliste der Pentateuch-Ausgabe bezeugt das breite Interesse an Mendelssohns Übersetzungsvorhaben. Theologisch-hermeneutisch von besonderem Interesse ist der Kohelet-Kommentar von 1769/70. Er zeigt die intensive Auseinandersetzung Mendelssohns mit der Frage der Unsterblichkeit der Seele. Gegenüber der radikalen Skepsis des Kohelet-Buches bemüht sich Mendelssohn darum, eine Konsens-Möglichkeit aufzuzeigen: Er versucht, in diesem Buch einen Dialog zwischen dem Skeptiker und den Vertrauensaussagen nachzuweisen. - Außerdem enthält der Band einen frühen Versuch einer Wochenschrift für jüdische Leser (Prediger der Moral, ca. 1755), Marginalia und Dokumente der Berliner Gemeinde. Die umfangreichen Einleitungen erläutern Entstehungsgeschichte und Kontext und legen Rechenschaft über die Edition ab. Umfangreiche Anmerkungen, ein deutsch-hebräisches Begriffsverzeichnis zu den Termini der Logik und ein Personenregister erschließen die Texte.

In der Einleitung zu Band 5/1, der Textausgabe von Mendelssohns Beiträgen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend hatte Eva J. Engel die Tatsache beklagt, dass die modernen kritischen Neudrucke jeweils nur den Anteil Lessings, Nicolais und Mendelssohns an den Literaturbriefen berücksichtigen. "Idealerweise müssten endlich die Literaturbriefe als Ganzes herausgegeben werden." Sie formulierte das Programm, "dem heutigen Leser nicht nur Anmerkungen zu einzelnen Beiträgen Mendelssohns zu bieten, sondern auch durch knappe Kommentare Mendelssohns Ideen und Rezensionen mit denen seiner Mitverfasser zu überbrücken" (Bd. 5/1, LXVI). Band 5/3 löst diese Absicht in vorzüglicher Weise ein. Titelblatt und Inhaltsverzeichnis der 23 "Stücke" der Literaturbriefe werden im Faksimile abgedruckt. Zu allen Literaturbriefen, die nicht von Mendelssohn stammen, werden knappe, zum Teil auch ausführliche Zusammenfassungen geboten, so dass das Spektrum des Gesamtwerks ebenso wie das Profil der Beiträge Mendelssohns erkennbar wird. Band 5/3a stellt somit vielleicht das Herzstück jener Abteilung der JubA (Bd. 5,1 und 5,3a mit 5,3b) dar. Die Literaturwissenschaft wird der Herausgeberin für diese Leistung sehr dankbar sein.

Eines der Ziele der Edition ist die Herstellung einer verlässlichen Textbasis. Sowohl in den Literaturbriefen wie in der Allgemeinen deutschen Bibliothek wurden die Rezensionsartikel nicht namentlich gezeichnet. Wechselnde Siglen erlauben immerhin die Zuweisung zu einzelnen Autoren. In etlichen Fällen gibt es jedoch Unsicherheit in der Dechiffrierung. Lessings Anteil gilt seit den kritischen Werkausgaben des 19. Jh.s als gesichert; Mendelssohns Artikel sind in der Ausgabe seiner Gesammelten Schriften (1843-1845) neu gedruckt worden; Nicolais Beiträge liegen ebenfalls in einer Kritischen Gesamtausgabe seiner Schriften vor (1990). Die Zuschreibungen differieren aber bei einzelnen Stücken. Eva Engel ist geneigt, den Anteil von Mendelssohn eher umfangreicher anzunehmen. Wo sie das tut, gibt sie ausführlich Rechenschaft. Vorbildlich und spannend geschieht dies hinsichtlich der Rezension zu Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes (Lit.-Brief 280-281, 1764): Während ein erheblicher Teil der Kantforscher Mendelssohn als Verfasser dieser Rezension annimmt, verweist das Sigle Tz eigentlich auf Friedrich Gabriel Resewitz als Autor. Im vorliegenden Band 5/3a wird nun das Pro et contra durch Michael Albrecht (414-422, für Resewitz) und Eva J. Engel (422-435, für Mendelssohn) vorgetragen.

Entsprechende Probleme ergeben sich bei den Zuschreibungen von Rezensionsartikeln in der Allgemeinen deutschen Bibliothek. Auch hier hatte die Herausgeberin (Bd. 5/2, XLIV) darauf hingewiesen, dass die Zuweisung zum "Corpus Mendelssohnscher Schriften" fehlbar bleibe. Wegen der Unsicherheit bestimmter Chiffren bezieht sie sich auf die "Interessensphäre Mendelssohn". So kann es aber dazu kommen, dass eine solche Vermutung förmlich zurückgenommen werden muss: Die Zuweisung der Rezensionen zu Herders Nachruf "Über Abbts Schriften" und zum ersten Band von Abbts Vermischten Schriften (Bd. 5/4, Nr. 21 und 22) an Mendelssohn muss entfallen, da im Kommentar nun dargestellt werden kann, dass Isaak Iselin der Autor ist (151-171). Die Weiterführung der Forschung hat also die Zuweisung in Band 5/2 korrigiert.

Fraglich erscheint mir ebenfalls, ob die Besprechung von Klopstocks Werk "Die deutsche Gelehrtenrepublik" wirklich Mendelssohn zum Verfasser hat. Die Rezension ist unsigniert; E. Engel (Bd. 5/2, 234-246; Kommentar in Bd. 5/4, 260-274) vermutet, dass Nicolai und Mendelssohn sie gemeinsam erarbeitet hätten. Sie wurde 1775 veröffentlicht - in einer Phase, in der Mendelssohn wegen seiner schweren Erkrankung noch klagte, wie arg seine Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sei. Der Stil der Rezension lässt m. E. die Stringenz von Beweisführung und kritischer Analyse vermissen, die Mendelssohns Arbeiten zur Rechts- und Kulturtheorie sonst auszeichnet. Wäre sein Widerspruch gegen den extrem nationalistischen Geist des Klopstockschen Entwurfs nicht gründlicher, nicht schärfer ausgefallen? - Bereits in der Einleitung zu dem Fragment "Zu Herder über Ramler: Oden" (Bd. 5/2, LVII-LXI) hatte sich die Autorin mit der strittigen Zuschreibung der Anteile von Herder und Mendelssohn an der Rezension zu Ramlers "Oden" in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (Bd. 5/2, 83-101) auseinander gesetzt. Im Kommentar (Bd. 5/4, 332- 346) wird dies noch einmal ausführlicher entfaltet und begründet.

Zu einem besonders instruktiven Ergebnis führt die Forschungsarbeit auf Grund des Briefwechsels zu dem 287. Literaturbrief. Während der gesamte Text von V. P. M. Mitchell in Band 4 seiner Kritischen Ausgabe der Schriften Friedrich Nicolais (Berlin etc. 1991, 253-270) abgedruckt wird, kann Eva J. Engel den Dialog zwischen Thomas Abbt und Mendelssohn deutlich machen (Text: Bd. 5/1, 617-629, Anteil Abbts; 630-637, Mendelssohns Antwort; dazu der Kommentar Bd. 5/3a, 445-454). Es handelt sich um eine Weiterführung des Diskurses, der durch Spaldings "Die Bestimmung des Menschen" ausgelöst wurde. Abbt äußerte seine religiösen Zweifel zunächst so radikal, dass die Berliner diese so ungeschützt nicht publizieren wollten. Wie dieser Dialog die beiden Partner in ein existentiell betroffenes Gespräch brachte, das Mendelssohn dann bis zur Ausarbeitung des "Phädon" weiterführte, wird durch die Kommentierung anschaulich. Dies zeigt zugleich, wie unmittelbar die literarisch-philosophische Debatte in die Auseinandersetzung mit der theologischen Anthropologie der Aufklärung eingriff.

Moses Mendelssohn erweist sich in der Vielseitigkeit seiner Interessen, in der Kompetenz seines philosophischen Urteils und zugleich in seinem Engagement für die Aktualisierung jüdischer theologischer Tradition im Kontext der besonnenen (frommen!) Aufklärung als Epochengestalt. Dies so präzise zu belegen und zu erläutern, ist das große Verdienst der Jubiläumsausgabe.