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Ausgabe: | Oktober/2005 |
Spalte: | 1100–1102 |
Kategorie: | Dogmen- und Theologiegeschichte |
Autor/Hrsg.: | Bayer, Oswald |
Titel/Untertitel: | Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVIII, 354 S. m. Abb. 8. Kart. Euro 29,00. ISBN 3-16-148122-4. |
Rezensent: | Albrecht Beutel |
Aus einer im Wintersemester 2001/02 gehaltenen Studium generale-Vorlesung ist diese "Gesamtdarstellung der Theologie Luthers einschließlich der Ethik" erwachsen, in der O. Bayer "in allgemeinverständlicher und zugleich gründlicher Weise die Ergebnisse jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Reformator ausgewertet und gebündelt" hat (Rückseite Einband). B. weiß um die Schwierigkeit, die Dynamik der Theologie Luthers "einer linear vorgehenden Darstellungsweise" (VIII) zu unterziehen, und sucht sie dadurch zu meistern, dass er, was nach Luther den Gegenstand der Theologie ausmacht - den "Wortwechsel zwischen Gott und Mensch", zwischen "homo peccator et deus iustificans" (36) -, in allen verhandelten Themen leitmotivisch zur Geltung bringt.
Die "Prolegomena" stellen, durchaus sachgemäß, der Behandlung des "subiectum theologiae" (Kapitel II) eine Erörterung von Luthers Theologieverständnis (Kapitel I) voran. Ferner wollen sie durch die Bestimmung der "reformatorischen Wende" auf die Frage "Was ist evangelisch?" stichhaltige Antwort geben (Kapitel III). Dabei identifiziert B., ohne andere abweichende Datierungsvorschläge zu diskutieren oder auch nur zu erwähnen, die Disputation "De veritate ..." (1518) als den "erste[n] reformatorische[n] Text" (45), dessen innovatorisches Potential die Schrift "De captivitate ..." (1520) ausgreifend entfaltet habe, und befestigt diese Einschätzung durch Erläuterungen zu der "Sprachhandlung" der promissio sowie zur Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Ein Abriss von Luthers Schriftverständnis (Kapitel IV) vervollständigt die Prolegomena.
Der zweite Hauptteil erörtert "Einzelthemen" der Theologie Luthers in heilsgeschichtlicher Folge. Zunächst führt B. die "Schöpfung als Sprachgeschehen" vor (Kapitel V), um dann die in Luthers Dreiständelehre erfasste "Ordnung der Welt", die nur die Kirche, nicht aber "Ökonomie und Politie" als "Schöpfungsordnungen" verstehen lasse, zu erläutern (Kapitel VI). Die folgenden Kapitel verhandeln die Themen "Der Mensch: Gottes Ebenbild" (Kapitel VII), "Sünde und unfreier Wille" (Kapitel VIII) sowie "Gottes Zorn und das Böse" (Kapitel IX), danach Luthers Christologie (Kapitel X), Pneumatologie (Kapitel XI) und Ekklesiologie (Kapitel XII), schließlich die Lehrstücke "Glaube und gute Werke" (Kapitel XIII), "Geistliche und weltliche Herrschaft" (Kapitel XIV) sowie "Weltvollendung und Gottes Dreieinigkeit" (Kapitel XV). Um an den "Sitz im Leben" der Theologie Luthers zu erinnern (315), beschließt B. seine Rekonstruktion mit einer knappen Besinnung auf "Zusage und Gebet" (Kapitel XVI).
Hervorzuheben ist, allem zuvor, die beeindruckende Präsenz der Textwelt Luthers. Viele Äußerungen des Reformators, darunter kaum bekannte, werden liebevoll präsentiert, in detailorientierter Sorgfalt analysiert und in meditativer Eindringlichkeit vergegenwärtigt. Aus einer Fülle interessanter Einzelheiten erwächst dem Leser der faszinierende Eindruck, dass Luther in allen geschichtlichen Auseinandersetzungen und theologischen Themen jederzeit bei der christlichen Hauptsache geblieben ist. Nicht der geringste Vorzug des Buches liegt übrigens darin, dass es die Luther-Forschung zu intensiver Weiterarbeit anregen dürfte. Fünf Impulse, die aus B.s gelehrter und anregender Arbeit hervorgehen könnten, seien kurz illustriert.
Der Theologe Luther, den dieses Buch zeichnet, ist tiefsinnig, geistreich und sympathisch. Doch erscheint er als ein merkwürdig geschichtsloser Solitär: Seine entwicklungsträchtige Frühphase, Bildungseinflüsse etwa aus der patristischen und monastischen Theologie, aber auch erkenntnisfördernde Freund- und Feindschaften oder prägende politische, institutionelle und geistesgeschichtliche Voraussetzungen werden kaum einmal ausdrücklich gemacht.
Von Berufs wegen war Luther weder "Alttestamentler" (95) noch "Professor für die biblischen Schriften" (VII), sondern Inhaber eines ganz gewöhnlichen, noch nicht spezifizierten theologischen Lehrstuhls (vgl. U. Köpf, Luthers theologischer Lehrstuhl, in: I. Dingel/G. Wartenberg [Hrsg.], Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, 2002, 71-86). Erst auf dem Hintergrund dieser beruflichen Normalität würde die Entscheidung Luthers, Theologie in konsequenter, seine gesamte Denk- und Argumentationsstruktur prägender Weise als Schriftauslegung zu organisieren, in ihrer ganzen Tragweite zu ermessen sein.
Die "Vergegenwärtigung", die der Untertitel in Aussicht stellt, ist doppelsinnig gemeint: "Zum einen soll der historische Sachverhalt neu in das gegenwärtige Bewusstsein gerückt" und zum andern gezeigt werden, dass Luther "sich uns zugleich auch selbst vergegenwärtigt, vielleicht sogar: aufdrängt" (X f.). Das führt B. zu der normativen Konsequenz, dass er "die im Umgang mit Luther gefundene Wahrheit durch Kontrastvergleiche ... mit großen Wahrheitssuchern wie Kant, Hegel, Schleiermacher und anderen" (XI; Hervorhebung von mir) befestigen möchte. Infolgedessen scheinen sich die meisten Wege, die über Luther geschichtlich hinausführten - beispielsweise die spätestens seit der Aufklärung konstitutiv gewordene, jedoch "evangelischem Verständnis" (15) angeblich widersprechende Unterscheidung von Religion und Theologie -, als das reformatorische Erbe verratende Abwege zu entlarven. Die harsche Kritik an "der" Neuzeit, die B. immer wieder übt, hätte man sich differenzierter und zugleich präziser gewünscht - oder sollten die Klagen über die "Harmlosigkeit moderner Liebestheologen" (4) und über die "Schwäche der großen theologischen Theoriebildungen seit 200 Jahren" (55) schlechterdings jedem neuzeitlichen Fachvertreter zu der Frage an den Reformator Anlass geben: "Herr, bin ich's?"
Die bekannte, teils äußerst drastische Antithetik Luthers wird von B. positionell bewertet. Das Urteil über das Papsttum als Antichrist sei damals zutreffend gewesen, treffe aber "auf das heutige Papsttum nicht mehr zu" (4). Dagegen habe sich der späte Luther in seiner Polemik gegen die Juden vergriffen: "Hier lässt sich wenig erklären, kaum etwas verstehen und nichts entschuldigen" (303). Einverstanden, dass der Theologiehistoriker kein Richter ist und deshalb weder anzuklagen noch zu entschuldigen hat! Aber für das Erklären und Verstehen wäre durchaus etwas gewonnen, wenn man die Antithetik Luthers nicht allein positionell, sondern auch strukturell - nämlich als Ausdruck einer sein Denken prägenden Grundbewegung - wahrnehmen würde.
Die Theologie Luthers ist in den letzten Jahren mehrfach dargestellt worden, zuletzt von G. Ebeling (1977/82/89), B. Lohse (1995) und R. Schwarz (2002). Insofern hätte man zumindest einen Hinweis darauf erwartet, wie B. das Verhältnis seines Werks zu diesen anderen Rekonstruktionen bestimmt. Denn der "Wortwechsel" ist nicht nur für die Gottesgemeinschaft des Menschen, sondern auch für die societas litterarum konstitutiv.
Dies alles, wie gesagt, schmälert nicht die genannten Verdienste, sondern mag das weitergehende Gespräch stimulieren. Durch ein feingliedriges Inhaltsverzeichnis (XIII-XVIII) und ausführliche Bibelstellen-, Personen- und Sachregister (325- 354) ist das Buch vorzüglich erschlossen. Dagegen wurde auf bibliographische Nachweise der oft seitenlangen Selbstzitate verzichtet, und das Publikum bleibt mit dem Eindruck, etliches nicht zum ersten Mal gelesen zu haben, allein.