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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

512 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Holzhey, Helmut, u. Peter Schaber [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethik in der Schweiz. Ethique en suisse.

Verlag:

Zürich: Pano 1996. XIII, 224 S. 8 = Theophil, 2. Kart. sFr 20.-. ISBN 3-9520323-5-2.

Rezensent:

Holsten Fagerberg

Seit den 60er Jahren ist ein wachsendes philosophisches und theologisches Interesse für die angewandte Ethik festzustellen. Zuvor waren die Ethiker hauptsächlich mit methodologischen und metaethischen Fragen beschäftigt. Die angewandte Ethik behandelt Fragestellungen, die vor allem die naturwissenschaftliche, soziale und technische Entwicklung hervorgerufen hat. Sie ist sach- und problembereichbezogen und sucht eine Konvergenz zwischen einem reinen deontologischen und teleologischen Grundmodell zu finden. Unerläßlich sind die Kenntnisse praktischer Verhältnisse wie das Suchen nach gemeinsamen Werten.

Die angewandte Ethik ist eine internationale Erscheinung; sie ist nicht von außen aufgezwungen, sondern aus einem vorhandenen Bedürfnis erwachsen. Die neuen Techniken innerhalb der Medizin und der Genetik machen es nunmehr möglich, das Leben in allen seinen Formen, sowohl die Tiere, die Menschen und die ganze Natur, zu beeinflussen. Notwendigerweise entstehen Fragen über den Zweck, das Ziel und die Grenzen dieser Eingriffe, für welche der Mensch allein verantwortlich ist. Naturwissenschaft und Technik haben im Zusammenhang mit der Umweltzerstörung ihre Unschuld verloren.

Das zur Besprechung vorliegende Buch zeigt, wie die Probleme bei Schweizer Wissenschaftlern ihre ethische und moralische Lösung finden. Es hat fünf Abteilungen: Allgemeine übergreifende Fragen, Politische Ethik, Wirtschaftsethik, Medienethik, Umwelt- und Tierethik und Medizinethik. Die Mitarbeiter sind Theologen und Philosophen an den verschiedenen helvetischen Lehranstalten. Die meisten Beiträge sind auf Deutsch, aber einige auch auf Französisch. - Anstelle eines inhaltlichen Berichtes folgen hier einige übergreifende Gesichtspunkte.

Man findet im Buch keine gemeinsame Terminologie oder Theoriebildung, obwohl Ansätze dazu im ersten Kapitel von A. Bondolfi vorkommen. Der gewöhnliche Sprachgebrauch für die Theorie ist ,Ethik’, für das praktische Handeln ,Moral’. "Ethik ist ,Reflexionstheorie der Moral’ und prüft Moral am Maßstab des ,Guten’" (U. Saxer, Kap. 8), aber dieser Gedanke ist nicht konsequent durchgeführt.- Die Einsicht, daß die angewandte Ethik Rücksicht sowohl auf die Empirie als auch auf die Werte und Wertungen nimmt, hat in der Schweiz zu einer Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftler, Philosophen und Theologen geführt. Eines unter den vielen Beispielen ist das Séminaire Interfacultaire et Interdisciplinaire d’Ethique Médicale et des Sciences an der Universität in Lausanne, das von D. Müller in seinem Kapitel über die medizinische Ethik erwähnt wird. Er befürwortet die Entbindung der medizinischen Ethik von dem vorherrschenden nordamerikanischen Einfluß und die Entwicklung einer Ethik, die in dem europäischen Kontext und der klinischen Erfahrung verankert ist. Aus ähnlichen, einheimischen Gründen werden von P. Bühler und P. A. Schmid die ethischen Probleme der Migrationspolitik besprochen.

Viele Verfasser betonen die zentrale Bedeutung des Menschen als Person mit seiner unveräußerlichen Würde. Die sittliche Freiheit und damit auch die sittliche Verantwortungsfähigkeit bilden den Kerngehalt der Menschenwürde. Aber die Annahme der Menschenwürde sollte nicht verhindern, daß auch nichtmenschlichen Wesen eine spezifische Würde zuerkannt wird (B. Sitter-Liver in Kap. 10). Dieser für einen außenstehenden Betrachter beinahe selbstverständlichen Auffassung stehen die zwei Alternativen gegenüber, daß nur der Mensch Würde hat und daß es zwischen empfindungsfähigen Wesen, Menschen und Tieren, keinen moralischen Statusunterschied gibt. J.-C. Wolf argumentiert für einen solchen Pathozentrismus.

Die Tragweite und die Folgerungen der Menschenwürde werden von H.-P. Schreiber im Kapitel über Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik auf die Spitze getrieben. Die theoretischen Überlegungen gelten dem Verhältnis zwischen einerseits der Menschenwürde und dem menschlichen Leben und andererseits der Frage, wann persönliches menschliches Leben entsteht. Diese heiklen Fragen werden nur sparsam beleuchtet. Statt dessen stehen zwei praktische Probleme im Zentrum: die Zulässigkeit biomedizinischen Experimentierens mit überzähligen Embryonen in Verbindung mit In-vitro-Fertilisation und die Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik. Die gegebenen Antworten unterscheiden sich nicht wesentlich von denen in andern Ländern, z. B. Schweden, aber sie sind nicht unumstritten.

Ein einziger Beitrag, Kap. 2: "Sind moralische Aussagen wahrheitsfähig" von P. Schaber, versucht nachzuweisen, daß es objektiv richtige Antworten ethischer Fragen gibt. Die Hauptlinie dieses informativen Buches ist aber, daß in der angewandten Ethik einfache Lösungen selten vorhanden sind. Ethische Äußerungen haben nicht die gleiche Gewißheit wie die wissenschaftlichen Sätze (A. Bondolfi, Kap. 1). Ethik ist ein Prozeß, bei dem das Falsche und das Richtige, das Verantwortliche und das Verwerfliche gewöhnlich in langen Abwägungen über die Tatbestände und die Werte erst gefunden werden kann (A. Holderegger, Kap. 15). Vieles spricht dafür, daß es sich so verhält.