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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1098 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wegener, Inke

Titel/Untertitel:

Zwischen Mut und Demut. Die weibliche Diakonie am Beispiel Elise Averdiecks.

Verlag:

Göttingen: V & R Unipress 2004. 640 S. m. Abb. gr.8 = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, 39. Kart. Euro 62,00. ISBN 3-89971- 121-1.

Rezensent:

Ute Gause

Die vorliegende Arbeit wurde 2001 unter der Betreuung von Professorin Inge Mager an der Universität Hamburg als Dissertation eingereicht. Das voluminöse Werk widmet sich einem Desiderat, nämlich der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der Frauendiakonie. Dabei hat sich die Vfn. auf die Gründerin des Diakonissenhauses Bethesda in Hamburg - Elise Averdieck (1808-1907) - konzentriert mit dem Anspruch, eine erste kritische Biographie (21) vorzulegen.

Die Forschungsübersicht erfasst einige neuere Arbeiten - u. a. die Dissertation von Silke Köser zu den Kaiserswerther Diakonissen im 19. Jh. (Diss. phil. Erfurt 2002) und die von Katrin Irle zu Caroline Fliedner (Diss. phil. Siegen 2002; im Internet unter www.ub.uni-siegen.de/pub/diss/fb1/2003/irle/ irle.pdf publiziert; vgl. dazu auch S. 69, Anm. 170: zu Caroline Fliedner sei noch keine kritische Biographie erschienen, genauso S. 82). Die Pionierarbeiten von Catherine M. Prelinger werden im Inhaltsverzeichnis genannt, aber nicht gewürdigt.

Das zweite Kapitel des ersten Teils bietet einen Überblick über die biblisch-theologischen Grundlagen der weiblichen Diakonie und die historische Weiterentwicklung, wie er so ähnlich schon in etlichen anderen Arbeiten (z. B. Dorothea Reininger, Jutta Schmidt, Gerlinde Viertel) recherchiert wurde. In der Darstellung der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie (68 ff.) wird - entgegen der geäußerten Absicht - vor allem Fliedners Leistung beschrieben.

In der Darstellung Carolines begegnen kleinere Unrichtigkeiten: So hatte Fliedner keineswegs um eine Heiratsempfehlung von Amalie Sieveking nachgesucht (83), sondern bei ihr angefragt, ob sie ein in Berlin zu gründendes Institut zur Ausbildung evangelischer Schwestern leiten wollte. Dafür empfahl Amalie Sieveking Caroline Bertheau, die in dieser Zeit eine Stelle als Oberaufseherin für die weibliche chirurgische Station des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg innehatte. Als Alternative zur Stelle in Berlin machte Fliedner Caroline dann einen Heiratsantrag. Caroline gebar nicht nur vier, sondern acht (!) weitere Kinder, von denen nur eines bereits im Kindesalter starb (84). Ihre Leistungen für die Organisation der Anstalt während Fliedners ausgedehnter Reisetätigkeiten bleiben unberücksichtigt.

Instruktiv ist das Kapitel über die Gründungen von Diakonissenhäusern durch Frauen. Ein weiterer Teil widmet sich der Auseinandersetzung mit der weiblichen Diakonie, d. h. der Verteidigung gegenüber ihren Kritikern. In der Auseinandersetzung um die Diakonissenfrage (149 ff.) wird die Person der Elisabeth Malo stiefmütterlich kurz behandelt (die Arbeit von Christiane Markert-Wizisla zu Malo [1997] scheint der Vfn. entgangen zu sein).

Teil III beginnt mit einer Übersicht über Hamburgs wirtschaftliche und soziale Situation im 19. Jh. sowie den Einfluss der Erweckungsbewegung. Der Hauptteil der Arbeit über Elise Averdieck (ab 252!) ist sorgfältig recherchiert. Schon die erst 21-jährige Averdieck setzt sich für eine adäquate Bildung von Frauen ein - ähnlich wie Amalie Sieveking. Die Darstellung zeigt - analysiert aber nicht -, dass es sich bei Averdieck um eine unorthodoxe Persönlichkeit handelt, die die Räume, die Frauen zugestanden wurden, erweitern wollte. Zunächst übt Averdieck Tätigkeiten in der Alten- und Krankenpflege aus. Sie erlebt im November 1835 ihre Erweckung (vgl. 267). Kurz darauf eröffnet sie eine Knabenschule, die sie zwischen 1838 und 1856 leitet. Ihre Tagebuchaufzeichnungen und Gedichte spiegeln ihre Frömmigkeit wider. Für die Kinder, die sie unterrichtet, schreibt sie Schul- und Erzählbücher. Die Jahre zwischen 1837 und 1841 charakterisiert die Vfn. als geprägt durch "wachsendes Gottvertrauen und Gewißwerden in der Berufung" (290). Daran hat Rautenberg als ihr Beichtvater Anteil. Seit den 1840er Jahren vertieft sich der Kontakt zu Amalie Sieveking. Averdieck hält Andachten im Amalienstift und bekommt den Anstoß, sich für die Gefängnisseelsorge und in der Sonntagsschularbeit zu engagieren. Konstitutiv für Averdieck ist ihre erweckte Frömmigkeit, der die Vfn. akribisch nachgeht, u. a. in dem Kapitel über die Hermannsburger Einflüsse und die seelsorgerliche Beziehung zwischen Averdieck und L. Harms. Ihre Sonntagsschularbeit führt sogar zum Bau einer Kinderkirche. Ihr Sendungsbewusstsein gipfelt in der Leib- und Seelsorge an leidenden Menschen, die sie als nächste Aufgabe für sich entdeckt.

Wie so viele erweckte Frauen des 19. Jh.s wendet sie sich aus existentieller Frömmigkeit der sozialen Arbeit zu und kann ihre öffentliche Tätigkeit religiös legitimieren. Sie entwickelt persönliche Gestaltungspläne für eine Diakonissenanstalt eigenen Charakters: Für sie sind der Beruf dienender Liebe, der lebendige Glaube und das freie Gebet wichtig (vgl. 369), wobei sie die geistliche Dimension der Diakonissenausbildung mehr betont als die krankenpflegerische. 1856 wird Bethesda gegründet und expandiert rasch. 1860 wird die erste Diakonisse eingesegnet. Allerdings erhält Bethesda keinen großen Zulauf an Schwestern. Die theologischen Begründungen für den Dienst der Diakonisse sind ähnlich wie die in anderen Mutterhäusern.

Auffällig ist, dass bei der Einsegnung nicht nur der Dienst der Diakonisse betont, sondern diese ebenfalls des Beistandes Gottes versichert wird (vgl. 392). Zentral ist auch hier die Eigenschaft der Selbstverleugnung um Christi willen. (404: Der Satz Das tat ich für Dich, was tust Du für mich ist durch Zinzendorf bekannt geworden. Ich glaube nicht, dass Averdieck ihn aus jesuitischer Tradition [vgl. Anm. 1422] übernommen hat.) Averdieck definiert sich als Hausmutter ihrer Schwestern, nicht als Vorsteherin oder Oberin. In den Statuten der Anstalt ist sie allerdings alleinige Vorsteherin der Anstalt - dies zeigt wiederum etwas von ihrem Selbst- und Sendungsbewusstsein.

1867 setzt Averdieck gegen den Widerstand des Komitees den Bau eines Siechenhauses durch, das 1868 eingeweiht wird. Viele Tochtergründungen Bethesdas entstehen. 1881 tritt Averdieck als Hausmutter Bethesdas zurück. Bethesda gerät nach ihrem Ausscheiden in eine lang andauernde Krise. Sie gipfelt in der Kündigung und dem Umzug von der Oberin und 66 Schwestern nach Rotenburg/Wümme im April 1905. Averdieck stirbt 1907 im hohen Alter von 99 Jahren.

Ich hätte der Arbeit Mut zur Kürze gewünscht. Statt der zu langen und nicht sehr innovativen ersten zwei Kapitel hätten Averdiecks religionspädagogische Schriften gründlicher ausgewertet werden können. Eine Rezeption neuerer, vor allem geschichtswissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit Identitätskonstruktionen und dem Verhältnis von erweckter Frömmigkeit und sozialer Arbeit auseinandersetzen, fehlt. Das führt dazu, dass die Vfn. letztlich Elise Averdieck nur in das Klischee der starken, frommen Frau zwischen "Mut und Demut" pressen kann. Inwiefern es sich hier um eine "Feminisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert" handelt, bleibt offen.

Das große Verdienst der Arbeit ist es, Elise Averdiecks Biographie, ihr Wirken und ihre Frömmigkeit dargestellt zu haben. Insofern leistet sie trotz der skizzierten Einschränkungen für die historisch-theologische Frauenforschung und die Diakonie- und Kirchengeschichte einen wichtigen Beitrag.