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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1093–1095

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Grochowina, Nicole

Titel/Untertitel:

Indifferenz und Dissens in der Grafschaft Ostfriesland im 16. und 17. Jahrhundert.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2003. 499 S. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe 23: Theologie, 766. Kart. Euro 65,40. ISBN 3-631-39820-4.

Rezensent:

Karl Friedrich Ulrichs

Durch seine singuläre Bikonfessionalität von Luthertum und Calvinismus ist Ostfriesland ein Dorado für die Konfessionalisierungsforschung. Konfessionalistische und sozialdisziplinierende Bestrebungen setzten regelmäßig auch Dissens und Indifferenz frei, Letztere verstanden als Loyalitätsminderung gegenüber einer dominanten Konfession, die sich nicht einem antikonfessionellen Affekt schulden muss, sondern etwa auch einer Neugewichtung von konfessionellen und wirtschaftlichen oder politischen Interessen. Indifferenz und Dissens wurden in Ostfriesland durch Machtdefizite und Unentschiedenheit des Grafen- und späteren Fürstenhauses, das frühe Auftreten nonkonformistischer Glaubensgruppen in den benachbarten Niederlanden, das zahlreichen Glaubensflüchtlingen gewährte Asyl und durch die dem Patronatsrecht geschuldete Unabhängigkeit lokaler Autoritäten und Gemeinden begünstigt. Wie diese gewissermaßen rückseitigen Aspekte der Konfessionalisierung zu verstehen sind, stellt die derzeit an der Universität Jena arbeitende Historikerin Nicole Grochowina in ihrer Hamburger Dissertation am Beispiel des frühneuzeitlichen Ostfriesland dar.

Ein Konnex zwischen Indifferenz und Dissens sei festzustellen: Ein höherer Grad an Dissens führe zu mehr Indifferenz (85), wie das gemischt-konfessionelle, überwiegend reformierte westliche Ostfriesland und insbesondere die reformierte Stadtrepublik Emden zeigten. Verdankt sich das aber der institutionellen Schwäche der Reformierten oder nicht doch (auch) der doktrinären Binnendifferenz - um nicht zu sagen: der wenn auch widerwilligen Duldsamkeit - des bekenntnistheologisch schwächeren Calvinismus? G. führt selbst die Fälle zweier Gegner der Kindertaufe an, die der eben alles andere als strenge Emder Kirchenrat im Lehramt belässt (122 f.) bzw. diakonisch unterstützt (237). Mit einem spiritualistischen Abendmahlsverweigerer wird lange diskutiert, ohne dass dies disziplinierende Folgen hätte (238 f.).

Kann nicht auch ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Dissens und Indifferenz gedacht werden? Wie, wenn Indifferenz Dissens fördert, wenn also am konfessionalistischen slippery-slope-Argument, wonach ein Aufweichen des Bekenntnisses rasch zu Irrlehre führe, doch etwas wäre? Oder liegen - wahrscheinlicher noch - Interdependenzen zwischen den beiden Phänomenen vor?

Justament der Stadtsyndikus Johannes Althusius - durch Herkunft und Bildungsgang ein in der Wolle gefärbter Reformierter und 1617 zum Mitglied des Kirchenrats gewählt - wird als Exempel eines Indifferenten mit eigenen staatstheoretischen Gründen dargestellt (205-213); das hätte man dann doch gerne aus dessen umfangreichem Werk belegt gesehen, etwa aus der dritten Auflage seiner Politica methodice digesta von 1614. Dass dieser seinerzeit mächtigste Mann der Stadt pragmatisch politischen Interessen folgte, ist nachvollziehbar, aber weist ihn das als Indifferenten aus? Althusius plädierte durchaus für ein hartes Vorgehen gegen Nonkonformisten und praktizierte dieses auch. G.s Einschätzung des mit Melanchthon befreundeten Bürgermeisters Petrus Medmann als eines "dissimulierenden Indifferenten" ist dagegen plausibel (200-205).

Mit einer Doppelstrategie aus (sporadischer) Verfolgung und Gesprächsangeboten versuchte die Mehrheitskonfession im 16. Jh. das Problem von Indifferenz und Dissens zu lösen (311-348); im 17. Jh. sollten zahlreiche Verordnungen die konfessionelle Identität und Homogenität gewährleisten (352-358), Schutzbriefe für Dissidenten ersetzten die Gespräche (bes. 374-382).

Zu den Quellen- und Methodenproblemen (s. dazu Susan R. Boettcher: EJb 83, 2003, 112 f.) ist zu fragen, ob die Quellenlage - insbesondere die spärliche Überlieferung von Ego-Dokumenten der Indifferenten - die Validität mancher Aussagen nicht doch erheblich einschränkt. Die Unschärfe des Begriffs "Sinnsystem" als Sammelbegriff für Konfessionen, Indifferenz und Dissens, aber auch als Bezeichnung individueller Mixturen religiöser Gedanken (234.239 f.249 u. ö.) indiziert ein Problem: Wie hoch muss der Grad an Devianz sein, damit von einem eigenständigen "Sinnsystem" gesprochen werden kann? Zu Indifferenz und Dissens kommt es auch wegen biographischer Krisen (ein Beispiel wäre der auf S. 228-232 dargestellte Indifferente Heye Hemmen). Bedürfen viele Indifferente nicht eher der Seelsorge als der Kirchenzucht? Ob sie diese auch erfahren haben, dazu fehlen natürlich die Quellen. Immerhin hat der Emder Kirchenrat zu Fürbitten für Indifferente aufgefordert (232 f.248).

Die hier und anderenorts geübte Kritik belegt den Rang dieser souverän strukturierten und formulierten Arbeit. Deutlich wird, wie groß der Freiraum neben den Konfessionen war. Die weiterführende Frage ist: In welchem Verhältnis steht dieser zum Freiraum innerhalb der Konfessionen? Konfessionen definieren einen Denkraum, normieren keine doktrinäre Linie; daher scheint ihnen die Tendenz zu Diversifikation inhärent zu sein. Bei den notorisch zerstrittenen Reformierten liegt das zu Tage.

Dass der Emder Kirchenrat die Kindertaufe "mit der Beschneidung der Jungen in der alten Kirche [sic!] auf eine Stufe gestellt" habe (237), ist kein Lapsus jener Presbyter, sondern einer von G. Der schönste Satz des Buches versteckt sich in einer Fußnote auf S. 218: "Prügelnde Prediger waren in ostfriesischen Gemeinden keine Seltenheit." Man übersehe nicht das Präteritum.