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Ausgabe: | Oktober/2005 |
Spalte: | 1089–1091 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Reformationszeit |
Autor/Hrsg.: | Simon, Wolfgang |
Titel/Untertitel: | Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XX, 771 S. gr.8 = Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, 22. Lw. Euro 124,00. ISBN 3-16-147833-9. |
Rezensent: | Siegfried Bräuer |
Die doppelt preisgekrönte Arbeit, eine Erlanger theologische Dissertation von 2001, will im Unterschied zu zahlreichen früheren einschlägigen Untersuchungen neben den Voraussetzungen auch den Zusammenhang zwischen Konzept und Rezeption von Luthers Verständnis des Messopfers bis 1522/23 in den Blick fassen. Darauf weist bereits der Untertitel hin. Weder konfessionelle Interessen noch die ökumenische Verständigung sind das Ziel. Wolfgang Simon ist vor allem an der Rekonstruktion der theologischen Wirklichkeit gelegen, mit der es Luther zu tun hatte. Im 1. Teil wendet er sich deshalb zunächst den Voraussetzungen von Luthers Messopfertheologie zu, den Grundstrukturen der Messopferproblematik (u. a. Verhältnis von Opfer und Kreuzesopfer, von Dank und Sühne), um "ein diagnostisches Handwerkszeug" für die anschließenden ausführlicheren Analysen der liturgiegeschichtlichen Konkretionen zur Verfügung zu haben. Diese setzen mit einem Umriss der Messopfermodelle der Alten Kirche ein. Auf dem Hintergrund der (neu)platonischen Vorstellungen fasst S. sie unter dem Stichwort "eucharistische Aktualpräsenz" zusammen.
Die Spannung zwischen einem Verständnis als Selbstdarstellung der Gemeinde in Brot und Wein und als Christusgegenwart in der Memorialhandlung der Gemeinde bleibt erhalten, wie auch die sakramentale Geschehnisrichtung und das Verhältnis von Christus und Kirche im Sakrament offen bleiben. Mit dem Übergang von der Antike zum Mittelalter veränderten sich die ontologischen Voraussetzungen. An die Stelle des neuplatonischen Bilddenkens trat die "ganz auf die Sphäre des Dinglich-Greifbaren konzentrierte Wahrnehmung" (68), statt der Aktualpräsenz des Erhöhten im Geschehen der Feier wurde der Konsekrationsakt des bevollmächtigten Priesters zum Mittelpunkt. Die Folgen werden in einer Skizze der spätmittelalterlichen Messopfertheologie aufgezeigt (u. a. Konzentration auf die visuelle oder haptische Dimension, Präsenz der Gemeinde als konstitutives Element verblasst, Aufstieg der Privatmesse, Verehrung der konsekrierten Hostie, Elevation). Die Messopferthematik stand im Zentrum der eucharistischen Frömmigkeit und hielt "eine reiche Fülle christologischer, soteriologischer und ekklesiologischer Implikationen" bereit (164), als Luther sich mit ihr auseinander zu setzen begann.
Vor dem Hintergrund der angedeuteten Voraussetzungen stellt S. im zweiten Teil Genese und Gestalt der Messtheologie Martin Luthers dar. Zunächst analysiert er, chronologisch geordnet, die schriftlichen Äußerungen zu Sakrament, Messe und Opfer in den frühen Vorlesungen sorgfältig nach Struktur und Inhalt. Bereits in der ersten Psalmenvorlesung ist der Glaube Zentralbegriff der Gottesbeziehung. Opfer und Sakrament werden entkoppelt und somit die Messkritik vorbereitet. Intensiviert wird das in der Römerbriefvorlesung, in der die Gerechtigkeit zum Zentralbegriff avanciert und Christus zum alleinigen Subjekt sowie das Evangeliumswort zum Medium der Selbstmitteilung Christi erklärt werden. In der Vorlesung zum Hebräerbrief kann Luther schließlich sein Sakramentsverständnis anhand des Testamentsbegriffs profilieren, indem die empfangende Haltung des Erben allein den Akzent erhält. Das traditionelle Opferverständnis der Messe wird damit aufgegeben. Sie ist nicht selbst Opfer, sondern Gedächtnis des Selbstopfers Christi. Die messtheologischen Elemente in Luther-Schriften der Jahre 1518 bis 1520 konzentrieren sich auf Einzelaspekte und bringen die Klarheit der reformatorischen Erkenntnis voran, z. B. die Kritik an jeder Vorleistung, die soziale Dimension der Sakramentsgemeinschaft, die verba testamenti als Zusammenfassung der Sakramentstheologie. Ausführlicher wird danach die Entfaltung der Messopfertheologie in den Messschriften der Jahre 1520 bis 1522, auch anhand tabellarischer Übersichten zu Aufbau und Inhalt der wichtigsten Publikationen, dargestellt.
Instruktiv ist ein Vergleich zwischen dem für Laien bestimmten Testamentsermon und der an den Klerus gerichteten kontroverstheologischen Hauptschrift "De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium", in der die Kanonfassung der verba endgültig aufgegeben und das Testamentskonzept deduktiv vorausgesetzt wird. An die Stelle der Spannung zwischen Dank und Opfer ist die Trennung beider Aspekte getreten. Gleichfalls bis ins Einzelne gehend wird schließlich die christologische Vertiefung in der zweisprachig veröffentlichten Schrift "Vom Missbrauch der Messe" aufgewiesen. Das Kreuzesopfer wird in seiner Einbettung in das gesamte Christusgeschehen verstanden. Im Verheißungswort wird der Erhöhte gegenwärtig, der im sakramentalen Mahl auch Subjekt gegenüber der Kirche bleibt. Für den Menschen bleibt nur der Dank als Folge des Sakramentsgeschehens. In einem Ausblick geht S. noch auf Luthers Messtheologie nach 1522 (z.B. die Kritik am Kanon als verfehlte Verbindung von Messopfer und Bitte in "Von dem Greuel der Stillmesse") ein.
Über bisherige Arbeiten hinausführend begnügt sich S. nicht damit, die Verwurzelung von Luthers Auffassungen über die Messe in der theologischen Tradition aufzuzeigen und die Entstehung und Entfaltung seines messtheologischen Profils minutiös nachzuzeichnen, sondern geht im dritten Teil seiner Arbeit auch der Rezeption von Luthers Messtheologie sowie Luthers Reaktion darauf nach. Die bekannten Quellen zur Wittenberger Diskussionsphase während Luthers Wartburgaufenthalt analysiert er, teilweise durch tabellarische Übersichten verdeutlicht, ähnlich differenziert wie Luthers Schriften zuvor. Nicht minder aufmerksam wird der Aktionsphase von Dezember 1521 bis März 1522 nachgespürt, wenngleich hier teilweise der quellenkritische Aspekt nicht konsequent beachtet wird. Die letztlich unentschiedene Situation wird erst durch Luthers Präzisierung des Verhältnisses von Messtheorie und Messreform in seiner "treue[n] Vermahnung" und in den Invocavitpredigten (Schutz der Persona- lität) geklärt. Ließ schon die Aufnahme von Luthers messtheologischem Konzept in Wittenberg eine Reihe von Nuancen erkennbar werden, so muss bei den Rezipienten und Multiplikatoren außerhalb Wittenbergs (bis 1523) verstärkt damit gerechnet werden. An den Schriften von Eberlin von Günzburg, Urban Rhegius, Johannes Diepold, Heinrich von Kettenbach und Kaspar Güttel wird gezeigt, dass Luthers Konzeption rezipiert, aber durchaus mit eigenen Akzenten versehen wird. Wie stark die theologische Fragestellung in unterschiedlichen Situationen dominiert, arbeitet S. anhand einzelner Schriften heraus, in denen die Messthematik keine zentrale Rolle spielt oder ein Ausgleich zwischen Testamentskonzept und Opferqualifikation gesucht wird (anonyme Schrift "Hübsch argument, Red, Fragen und Antwort" von 1522) bzw. die innerprotestantischen Differenzen (Andreas Kellers "Anzeigung, was für Gotteslästerung in der Papisten Mess ist" von 1524) bereits auf der Tagesordnung stehen.
Mit einer zusammenfassenden, aber noch einmal differenziert gestalteten Thesenreihe, einer umfangreichen Bibliographie und Registern schließt S. seine klar strukturierte gründliche Untersuchung ab. In ihrer Aufarbeitung der theologiegeschichtlichen und liturgiegeschichtlichen Forschung, in ihrer eindringenden Analyse der Lutherschriften wie wichtiger anderer zeitgenössischer Veröffentlichungen zur Sache sowie durch ihre Absage an konfessionelle bzw. zusätzliche Fragestellungen hat er eine Rekonstruktion von Entstehung, Ausformung und früher Rezeption von Luthers Messopfertheologie vorgelegt, an der nicht mehr vorbeigegangen werden kann. Störend ist zuweilen bei der Lektüre ein Hang zum ausgiebigen Gebrauch der Fachterminologie, die noch dazu durch modische Abstraktbildungen bereichert wird (z. B. Dual, Illustrat und besonders häufig Hiat). Exemplarisch für den Gewinn, den die Analysen der Lutherschriften erbringen, ist das Ergebnis bei der "treue[n] Vermahnung" von 1522. Mit einsichtigen Gründen plädiert er wieder für die herkömmliche Auffassung, dass sich Luther nicht vor allem gegen die Aufruhrgefahr in Wittenberg richtet, wie Ulrich Bubenheimer 1985 in einer vielfach rezipierten These vorgeschlagen hat.
Fragen bleiben bei einer so umfassend angelegten und vor allem geistesgeschichtlich ausgerichteten Monographie selbstverständlich nicht aus. So signalisiert beispielsweise bei der von Liturgie- und Theologiehistorikern unbedenklich übernommenen These, es sei "mit dem Eintritt des Christentums in die Welt der Germanen zu einer Krise der sakramentalen Idee" gekommen (67, Gunter Wenz), bereits der Begriff "Welt der Germanen", dass der Wandel von Vorstellungen sich nicht abgehoben von den tatsächlichen geschichtlichen Vorgängen vollzogen hat. Bei dem Bemühen, Luthers Intentionen herauszuarbeiten, hat S. wohl nicht immer die vorgegebene Akzentsetzung in den von Luther interpretierten biblischen Texten (z. B. Hebräerbriefvorlesung) hinreichend bedacht. Obgleich er warnt, die Wittenberger Ereignisse während Luthers Wartburgaufenthalt zu dramatisieren, vermag er nicht, sich völlig diesem gängigen Trend zu entziehen (327: "die brodelnde Wittenberger Situation"; 482: "stürmt eine Gruppe die ... Stadtkirche"; 513: "Tumulte"). Mit seinen genauen Analysen der bekannten Quellen zur Wittenberger Bewegung vermag er, teilweise in kritischer Auseinandersetzung mit bisherigen Interpretationen (z. B. Bubenheimer und Karl Müller), ein differenzierteres Bild über den Umgang mit der Abendmahlsthematik zu dieser Zeit zu entwerfen, als es in den bisherigen Darstellungen anzutreffen ist. Ob man sich allerdings bei allen Quellen auf die Inhaltsanalyse konzentrieren und die Absicht des Schreibers außer Acht lassen kann (Helmans Bericht war sicher auch als Impuls für Johannes Hess gedacht), wäre zu prüfen.
Zu einzelnen Stellen gibt es Klärungsbedarf. S. betont gegen Preus, dass das Ausscheiden von Plettner (statt korrekt Tilmann Platner) und Jonas aus dem Ausschuss nicht umstandslos "als gezieltes Ausschalten der konservativen Mitglieder gewertet werden könne", meint aber dennoch, die Gewichte hätten sich "zugunsten des Reformflügels verschoben" (483). Der Stolberger Pfarrer und Vizerektor des Sommersemesters Platner ist ebenfalls zum Reformflügel zu rechnen. Bedenken stellen sich insbesondere gegen die Darstellung von "2.4 Die Institutionalisierung in der Wittenberger Ordnung" (503-511) ein. Ohne neue sozialgeschichtliche Untersuchungen Unterschiede im Verhalten von Ratsmitgliedern gegenüber dem Landesherrn auf die Zugehörigkeit zum Fernhandelsbesitzbürgertum oder zum Zunftbürgertum zurückzuführen, geht nicht an. Nicht zu akzeptieren ist auch, dass - wie bisher - die handschriftliche Fassung der "Ordnung" unbedenklich als Vorform und der Druck als endgültige Ausgabe bezeichnet werden, ohne zu beachten, dass die "Ordnung" gar nicht in Wittenberg gedruckt wurde. Bevor die Texte vergleichend analysiert und gewichtige Folgerungen (z. B. 507: in der Druckfassung des Messartikels deutliche Abhängigkeit von Karlstadts theologischem Konzept) abgeleitet werden können, ist eine neue Untersuchung zur Überlieferung notwendig. Rücken Fragen dieser Art die Grenzen einer genauen Inhaltsanalyse bei einigen Textsorten in den Blick, so ist damit nicht die Fruchtbarkeit des methodischen Ansatzes für das Verständnis von Luthers Schriften bzw. seiner messtheologischen Entwicklung in Abrede gestellt. Von den frühen Wittenberger Aktivitäten abgesehen, werden leider die frühen Übergänge zur Umgestaltung der Messe (z. B. Kaspar Kantz und Thomas Müntzer) völlig ausgeklammert.