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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1085–1087

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Otto, Henrik

Titel/Untertitel:

Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2003. 358 S. gr.8 = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 75. Lw. Euro 44,95. ISBN 3-579-01648-2.

Rezensent:

Volker Leppin

Die Frage nach dem Verhältnis Martin Luthers zur mittelalterlichen Mystik wird seit einigen Jahren wieder verstärkt diskutiert. Nach Bernhard von Clairvaux rückt dabei nun auch Johannes Tauler wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Dies liegt auch darin begründet, dass die Auseinandersetzung mit ihm bei Luther schon sehr früh festzustellen ist: in seinen wohl auf etwa 1515/16 zu datierenden Randbemerkungen zu der Predigtsammlung des Straßburger Dominikaners. O. unternimmt es nun in seiner im Jahr 2000 in Göttingen unter Betreuung Bernd Moellers angenommenen Dissertation, Luthers Annotierungen in ein breites Vergleichsmaterial einzuordnen. Er untersucht alle ihm verfügbaren Benutzerspuren in den beiden Tauler-Ausgaben aus der Zeit um 1500. Den Baseler Taulerdruck von 1521 lässt er mit der nachvollziehbaren Begründung, dass seine Rezeption schon zu stark im Zeichen der beginnenden Reformation stand, aus der Untersuchung aus.

In dem nach der Einleitung als zweites gezählten Kapitel stellt O. die - sehr reiche - handschriftliche und die gedruckte Taulerüberlieferung des zur Rede stehenden Zeitraumes vor (19-49), wobei er sich, dem Untersuchungsgegenstand entsprechend, auf die beiden Drucke durch Konrad Kachelofen in Leipzig 1498 und durch Johann Otmar in Augsburg 1508 (diese Ausgabe hat Luther benutzt) konzentriert.

Im dritten Kapitel behandelt er die "nachweisbare Leserschaft" (51-75). Bemerkenswert ist, dass innerhalb der insgesamt breiten geographischen Streuung ein "einziger regionaler Schwerpunkt ... feststellbar" ist: Wittenberg. Sozial war die wichtigste nachweisbare Rezipientengruppe nicht nur für Drucke, sondern für Taulerpredigten überhaupt, Ordensgemeinschaften, wobei sich für die "Tauler-Klöster" (57) mit wenigen Ausnahmen (62) als verbindendes Merkmal vor allem die Orientierung an der monastischen Reformbewegung feststellen lässt.

Nach diesen wichtigen buch- und lesegeschichtlichen Darlegungen folgt im vierten Kapitel eine inhaltliche Analyse der Taulerrezeption "im Spiegel der Annotationen" (77-161). Die untersuchte literarische Gattung bringt es mit sich, dass hier kaum mehr festzustellen ist als "Interesse" beziehungsweise "Desinteresse" an bestimmten Themen. Der diesbezügliche Befund ist nun allerdings bemerkenswert, wenn auch angesichts der frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklungen des 15. Jh.s nicht wirklich überraschend: Interesse fanden Themen wie Abwendung von der Welt, Kreuz und Leiden oder die Anfechtung, aber auch Anweisungen zur Frömmigkeitspraxis oder Ausführungen über den Menschen im Kampf mit dem Teufel. Themen, die man als spezifisch "mystisch" bezeichnen würde, wie die Lehre von der unio oder vom Seelengrund hingegen wurden in den Annotationen kaum beachtet. Dass man deswegen "nur in geringem Maße eine spezifische Taulerrezeption" feststellen könne (156), ist allerdings wohl eine Überbewertung, die sich zu sehr an den spekulativen Zügen mystischer Theologie orientiert und die Bedeutung der Umgestaltung der Mystik hin zu einer Frömmigkeit des Alltags unterschätzt (Teile der Forschungsdiskussion sind allerdings S. 156 f. angedeutet). Diese hat gerade bei Tauler und seiner Aufwertung des alltäglichen Berufslebens als "ruoff" Gottes eingesetzt. Eine nicht-spekulative Taulerrezeption kann mithin gerade solche spezifischen Elemente im Denken Taulers entdeckt haben, die diesen über andere mystische Kontexte hinausweisen ließen. Die particula veri der Bestreitung einer spezifischen Tauler-Lektüre liegen allerdings darin, dass diese Elemente Taulerschen Denkens nicht im Gegensatz zur allgemeinen Frömmigkeit stehen, sondern zugleich Teil und Katalysator ihrer Entwicklung sind. Genaueres wird man dazu freilich erst sagen können, wenn die- notwendigerweise - punktuell an der Taulerrezeption orientierten Forschungen O.s stärker in die Kontexte von Parallellektüren gestellt werden könnten, wie etwa bei der Kombination von Augustin und Tauler bei Luther und in seinem Umkreis.

Die dortigen Vorgänge nimmt O. - ohne auf diese Frage spezifischer einzugehen - nach einem eher exkursartigen fünften Kapitel zur Auseinandersetzung um die Volkssprachlichkeit der Tauler-Predigten im für seine Studie zentralen sechsten Kapitel in den Blick (175-264), das Luther, Lang, Jonas, Karlstadt und Eck untersucht. Von größter Bedeutung ist dabei O.s Beobachtung, dass das Spezifikum der Wittenberger Beschäftigung mit Tauler in dem Versuch lag, ihn "universitätsfähig" zu machen (181): Das bettet die Taulerlektüre tatsächlich tief in die Reformbestrebungen an der Wittenberger Universität ein und macht etwas von dem hier vollzogenen theologischen Sprachwechsel verständlich; zugleich wird damit die Konturierung der frühen reformatorischen Bewegung als Gemeinschaftsphänomen durch Jens-Martin Kruse (s. ThLZ 129 [2004], 948-951) noch einmal anschaulich unterstrichen.

Die inhaltliche Ausrichtung der Anmerkungen Luthers hat einen Schwerpunkt beim Thema der Anfechtung, während Reflexionen auf unmittelbare Gotteserfahrung oder auch auf den Seelengrund auf deutliche Distanz stießen. Dennoch setzt O. sich von der älteren evangelischen Forschung ab, die eine konstitutive Bedeutung Taulers für Luthers reformatorische Entwicklung bestritt, und sieht eine solche Bedeutung im Einklang mit anderen jüngeren Forschungsbeiträgen in Luthers Rezeption des Taulerschen Bußverständnisses, die auch in die Formulierung der Ablassthesen einging. Damit kommt dann Tauler für die Genese der reformatorischen Bewegung in der Tat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. - Gerade hier lässt sich auch die Differenz zwischen Luther und Karlstadt festmachen, insofern Karlstadt nicht nur deutlich stärker als Luther von spezifisch mystischen Inhalten affiziert war (250-252), sondern Tauler auch für Karlstadt im Unterschied zu Luther zeitlebens eine zentrale Bedeutung behielt (254). Abschließend kommt Eck im "Umkreis" Luthers zur Sprache, weil er sich erst auf Grund der Auseinandersetzung mit der Wittenberger Bewegung intensiver mit Tauler befasste und diesen dann durchaus folgerichtig "zum Häretiker zu stempeln" suchte (260) - eine Position, die im römischen Katholizismus der zweiten Jahrhunderthälfte durchaus Fortsetzung finden sollte.

Die weitere Forschung zur Entwicklung der Wittenberger Reformation wird an O.s Buch, das durch eine Kurzbeschreibung der Quellen (272-320) sowie editorische Anhänge abgeschlossen wird, schwerlich vorbeikommen. Auf einer originellen und trotz ihrer Sprödigkeit höchst aussagefähigen Quellengrundlage werden Entsprechungen der Reformatoren zu ihren Zeitgenossen und hierüber hinausweisende Elemente erfasst. Auch wenn das letzte interpretative Wort hierzu noch nicht gesprochen sein mag: Johannes Tauler ist durch dieses Buch jedenfalls wieder als wichtige Referenzgröße zur Beschreibung der Anfänge der Reformation erkannt und anerkannt.