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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1069–1072

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Ruth

Titel/Untertitel:

Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XVI, 639 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 179. Kart. Euro 84,00. ISBN 3-16-148309-X.

Rezensent:

Ingo Broer

Der Galaterbrief des Apostels Paulus erfreut sich zurzeit eines besonderen Forschungsinteresses. Das dürfte zum Einen damit zusammenhängen, dass dieser Brief wegen seiner im Vergleich zum Römerbrief wesentlich schärferen Formulierungen das Verhältnis zu Israel in besonderer Weise betrifft, zum Anderen aber auch damit, dass er das einzige von Paulus selbst stammende Dokument ist, in dem dieser auf seine Frühzeit zu sprechen kommt. Die Bochumer Dissertation von R. Schäfer verdankt sich dem letzteren Forschungsinteresse und widmet sich dementsprechend den Anfangskapiteln des Briefes mit dem Ziel, einen historischen Kommentar zu Gal 1,13-2,21 zu erarbeiten und die umstrittenen Einleitungsprobleme dieses Briefes einer neuen Lösung zuzuführen. Bei einem solchen Ziel kann man natürlich nicht auf einen Blick auf die Apg verzichten, so dass Analysen der Anfangspassagen des Gal neben solchen der Apg zu stehen kommen. Die umfassende Perspektive der Vfn. deutet der Untertitel bereits an. Allerdings hat es mit den dort genannten Gegenständen keineswegs sein Bewenden. Der Gedankengang kann aus Raumgründen nicht im Einzelnen nachgezeichnet, sondern nur die wichtigsten Ergebnisse und einige Argumente können vorgestellt werden.

Die Vfn. teilt mit den meisten Auslegern die Spätdatierung des Gal und erklärt die Schärfe des Konflikts zwischen Paulus und seinen Gegnern mit der Tatsache, dass Letztere nicht einfach nur Judenchristen waren, sondern dass sich darunter auch Proselyten befanden, "die sich unter hohem persönlichen Aufwand" hatten beschneiden lassen. Die Gegner forderten die Eingliederung der galatischen Gemeinden in die dortigen Synagogengemeinden und damit in die Abrahamsgemeinschaft und bestanden deswegen - unter Berufung auf Paulus und Jerusalem! - bei ihrer Predigt auf der Beschneidung und der Einhaltung der jüdischen Festtage. Abhängigkeit von Jerusalem kann nicht zu ihren Vorwürfen gehört haben, da sie sich damit ihr eigenes Fundament abgegraben hätten. Aus Gal 5,11a ergibt sich für die Vfn. "zwingend", dass Paulus nicht nur in seiner Zeit vor der Bekehrung auf der Beschneidung bestanden, sondern diese auch noch als Anhänger der Jesusbewegung gepredigt hat. Er wird sie sogar noch zur Zeit seiner Missionspredigt in den galatischen Gemeinden geduldet haben.

Sowohl aus Gal 4,13 als auch aus 4,18 erschließt die Vfn. mehrere Aufenthalte des Paulus bei den galatischen Gemeinden noch nach dem Gründungsaufenthalt. Astheneia in Gal 4,13 meint dann keine Erkrankung des Paulus, da eifrige Mission dazu nicht passt, und zielt auf das Ungenügen des Apostels gegenüber seiner Botschaft. Die mehrfache Erwähnung des Barnabas spricht dafür, dass dieser den Galatern nicht unbekannt war, was zu einer Ansetzung der Mission in Galatien durch die Vfn. in der Paulus und Barnabas gemeinsamen (Früh-)Phase des Apostels führt. Über sein Verhältnis zum Judentum redet Paulus teilweise recht undifferenziert, so dass man den Eindruck gewinnen kann, die nicht an den Messias-Jesus glaubenden Juden seien die Juden schlechthin. Paulus setzt sich zwar in Gal 1,13 von dem ab, was er pote getan hat, damit meint er aber nur eine Abkehr von seinem alten Selbstverständnis, nicht aber vom Judentum als solchem. Der Terminus Ioudaismos in Gal 1,13 meint nur eine bestimmte Form jüdischen Lebens. In Röm 2,17-29 wird freilich eine deutliche Reserve gegenüber dem Judentum erkennbar. Dennoch zeigt z. B. der Rückgriff auf die Berufungserzählung der Propheten in Gal 1,15 f., "daß Paulus sich auch zur Zeit der Abfassung des Galaterbriefs klar innerhalb der Glaubensgeschichte seines eigenen Volkes situiert" (112). Als für die Verfolgertätigkeit des Paulus in Frage kommende Anlässe erörtert die Vfn. u. a. die von den Jesusanhängern vertretene enge Beziehung zwischen Jesus und Gott und die Verkündigung eines Gekreuzigten und nach dem Gesetz somit Verfluchten - Beschneidungsfreiheit als Anlass ist in Gal 1 jedenfalls nicht erkennbar und passt ja auch nicht zu der von der Vfn. zuvor vertretenen These, Paulus habe auch nach seiner Bekehrung eine Zeitlang an der Beschneidung festgehalten, deren Notwendigkeit vertreten und diese später wenigstens noch toleriert. Dass die Jesusbewegung zur Zeit des paulinischen Offenbarungserlebnisses das Gesetz bereits abgelehnt hat, kommt für die Vfn. ebenso wenig in Frage wie eine gemäßigte Gesetzeskritik. Die Vfn. siedelt Paulus vor seiner Bekehrung in der hellenistischen Synagogengemeinde in Jerusalem an und geht davon aus, dass die zunehmende Verselbständigung der Jesusanhänger der Grund für die Verfolgungstätigkeit des Paulus gewesen ist. Paulus und Stephanus waren einmal Mitglied derselben Synagogengemeinde. Die Konflikte zwischen Synagogengemeinde und Jesusbewegung könnten in den hellenistischen Synagogen wesentlich spannungsreicher verlaufen sein als in den Synagogen der alten Jesusanhänger. Dass theologische Gründe für die Verfolgung ursächlich waren, sei keineswegs erwiesen. Das Offenbarungserlebnis des Apostels implizierte dementsprechend auch keine Abwendung vom Gesetz. "Die Wertschätzung des Gesetzes trägt sich im Leben des Paulus in gewissem Sinne durch" (119), wenn es auch in Gal 2,14-21 "in einer bestimmten Hinsicht eindeutig außer Kraft gesetzt wird" (274) und für Paulus keine rechtfertigende Kraft mehr besitzt (326). "Für die Glaubenden ist das Gesetz deshalb in Christus als seiner Erfüllung und seinem Ziel - allerdings wirklich nur in diesem Sinne als Mittel zur Aufrichtung eigener, und das heißt hier: exklusiv jüdischer statt inklusiv göttlicher, Gerechtigkeit (vgl. Röm 10, 3)- an sein Ende gekommen" (326 f.).

Die Wendung in Gal 1,16, dass Paulus, ohne sich mit "Fleisch und Blut" zu beraten, in der Folge des Offenbarungserlebnisses nach Arabien gegangen ist, ist Hinweis darauf, dass Paulus mit dem hinter Mt 16,16-18 liegenden Traditionsgut vertraut ist, und die radikale Wende im Leben des Apostels ist sozusagen der Wahrhaftigkeitsbeweis für die Behauptung des Offenbarungswiderfahrnisses, dieses kann nicht "selbstbegründet" sein. Paulus ist zwei Jahre nach dem Damaskuserlebnis aus persönlicher Neugier nach Jerusalem gegangen, keineswegs um seinen Apostolat bestätigen zu lassen, denn der Wahrheitsgehalt seines Evangeliums steht für ihn auf Grund seines Offenbarungserlebnisses ohnehin fest. Die Beurteilung seines Evangeliums durch die Jerusalemer Autoritäten hat allerdings für dessen faktische Durchsetzung große Bedeutung. Sein zweiter Jerusalemaufenthalt und damit der Apostelkonvent und der antiochenische Zwischenfall erfolgten innerhalb der 14 Jahre nach der ersten Reise. Beim Apostelkonvent sind die Konsequenzen des Paulinischen Evangeliums schon deutlich geworden, da Paulus und Titus dort eucharistische Tischgemeinschaft feierten, während die meisten auf gemeinsame Mähler grundsätzlich verzichtet haben. Paulus berichtet nicht noch mehr, da die Galater die weitere Geschichte des Paulus kennen, evtl. hat sich seine Mission bei ihnen direkt daran angeschlossen.

In Gal 2,6 werden deutlich Vorbehalte des Paulus gegenüber den Säulen erkennbar, die in der aktuellen Lage des Apostels begründet sein dürften und mit einer Veränderung der Einstellung der Jerusalemer Autoritäten ihm gegenüber und einer Stärkung des Jakobus zusammenhängen. Die Einigungsformel von Gal 2,9 meint eine Anerkennung der beschneidungsfreien Mission des Paulus und Barnabas als mögliche Ausprägung des Evangeliums durch die Jerusalemer Autoritäten und zielt auf eine "personengebunden-geographische Aufteilung", die weder einen Verzicht auf Judenmission auf Seiten des Paulus noch einen Verzicht auf Heidenmission auf Seiten der Jerusalemer impliziert. Gal 2,9e-f formuliert eine Ausnahme von dieser Aufteilung, insofern hier nun doch eine Verantwortlichkeit für den palästinischen Raum ausgesprochen wird, die vorher ausdrücklich verneint wurde. Das Problem der Tischgemeinschaft wurde damals auch schon verhandelt. Als Ergebnis verkündigten die Judenchristen weiterhin die Beschneidung und ließen nicht beschnittene "Heiden-Christen" nicht zur Tischgemeinschaft zu, waren aber zugleich mit der anderen Praxis des Paulus und Barnabas einverstanden.

Wenn "Paulus behauptet, bei der Zusammenkunft der Apostel als dem Fundamentfelsen der Jerusalemer Gemeinde ebenbürtig anerkannt worden zu sein", so vermischen sich damalige und spätere Erkenntnisse bei ihm. Die Jerusalemer Judenchristen beim antiochenischen Zwischenfall wollten lediglich weiterhin gesetzesobservant leben und keineswegs die Heidenchristen für ihren Weg des Evangeliums gewinnen und auch nicht ihre Landsleute auf den Pfad der Tugend zurückführen. Bei Petrus entsteht angesichts dieses Verhaltens der Jerusalemer ein Loyalitätskonflikt zwischen alter und neuer Gruppe, dessen grundsätzliche Bedeutung ihm keineswegs bewusst gewesen sein muss. Petrus ging offensichtlich in viel höherem Maße als Paulus davon aus, dass Judenchristen sich auch außerhalb Palästinas von den Heidenchristen fernhalten und getrennt Mahl halten können. Eine grundsätzliche Absage an die Gemeinschaft mit den Heidenchristen darf in dem Verhalten des Petrus und der übrigen Judenchristen nicht gesehen werden, möglicherweise war ihr Motiv nur die Furcht, "wichtige Neuigkeiten aus Jerusalem zu verpassen"! Petrus und die Übrigen haben dieses Verhalten schnell wieder aufgegeben und sind zur Tischgemeinschaft mit den Heiden zurückgekehrt.

In Gal 2,16 liegt eine genuin jüdische Aussage vor, die durch den Glauben an Christus allerdings eine besondere Konkretisierung erfahren hat. "So oder so ähnlich wurde auch sonst im judenchristlichen Umfeld des Paulus die Möglichkeit einer Rechtfertigung ausschließlich aus Gesetzeswerken (und damit an Christus vorbei) verneint." Bei den Werken des Gesetzes ist aus dem Kontext heraus an die separierenden Gebote der Beschneidung, des Sabbats und der Speisevorschriften gedacht. Christen werden nach Paulus nur durch den Glauben an Christus gerechtfertigt, eine heilsmittlerische Bindung an das Gesetz gibt es für sie nicht, für die Juden aber gibt es einen Sonderweg, der allerdings nicht an Christus vorbeiführt, sondern durch Annahme des Evangeliums im eschatologischen Geschehen erfolgt.

Was die Jerusalemreisen des Apostels angeht, so hält die Vfn. die Ausgestaltung der ersten für lukanische Redaktion auf Grund einer kurzen Nachricht von einer frühen Jerusalemreise des Paulus. Die zweite Reise zum Apostelkonvent erfolgte im Jahre 40, der antiochenische Zwischenfall frühestens 41. Danach folgte 46/47 die erste Missionsreise nach Zypern und in die Provinz Galatien, nach der Rückkehr kam es zu dem Konflikt mit den "einigen von Jakobus", die hinter die Abmachungen des Apostelkonventes zurück wollten, woraufhin Paulus und Barnabas nach Jerusalem gesandt wurden. Das dann bei dieser Gelegenheit auf dem Apostelkonzil im Jahre 47 verabschiedete Aposteldekret "erhebt Anspruch auf Geltung in der Stadt Antiochia sowie in Syrien und Zilizien überhaupt" (464) und gilt ausschließlich für Besuche von Heidenchristen bei gesetzesobservanten palästinischen Jesusjüngern und umgekehrt. Es ist Lukas gewesen, der es auf alle Heidenchristen ausdehnt. Paulus kann diesem durchaus zugestimmt haben und für das konkrete Gemeindeleben war es von höchst untergeordneter Bedeutung. Seine Geltung wurde von niemandem bestritten, das Problem in Galatien entstand dadurch, dass die Jakobusleute sich damit nicht zufrieden geben wollten und die Beschneidung von allen forderten.

Diese Thesen belegen die Selbständigkeit der jungen Vfn., aber auch ihr Streben nach Harmonie. Einwände sind - wie immer - in fast allen Fällen möglich. Hier mag stellvertretend ein Hinweis auf die Wende im Leben des Paulus als Beweis für die Wahrhaftigkeit seines Offenbarungserlebnisses genügen!