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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1067–1069

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

1) Reinmuth, Eckart 2) Reinmuth, Eckart

Titel/Untertitel:

1) Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments.

2) Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven.

Verlag:

1) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 118 S. kl.8 = UTB für Wissenschaft, 2310. Kart. Euro 14,90. ISBN 3-525-03236-6 (Vandenhoeck & Ruprecht); 0-8252-2310-8 (UTB).

2) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 86 S. 8 = Forum Theologische Literaturzeitung, 8. Kart. Euro 14,80. ISBN 3-374-02066-6.

Rezensent:

Thomas Söding

Was kann die Hermeneutik des Neuen Testaments aus dem Dialog mit der Kulturwissenschaft lernen? Reinmuth greift die Bedeutung der Rezeption auf; er nutzt die Leserperspektive, um die Fixierung auf objektive Textbedeutungen und dogmatische Lehrbegriffe aufzulösen. Allerdings sistiert er die Wahrheitsfrage nicht. Er thematisiert sie vielmehr in der Perspektive der Erfahrung (der das Zeugnis entspricht). Entscheidend ist der Rückbezug auf die Geschichte - besser(?): die Person - Jesu Christi. Dadurch eröffnet R. sich einen Spielraum, die Vielfalt der neutestamentlichen Schriften ebenso wie ihre Geschichtlichkeit zu würdigen und mit der - vom Kanon kodifizierten - Verbindlichkeit zu vermitteln. Es werden die Perspektiven und Grenzen einzelner Autoren und Schriften ebenso deutlich wie die großen Unterschiede in den Betrachtungsweisen - ohne dass diese Vielfalt die Einheit des Neuen Testaments zu sprengen braucht. Gleichzeitig bringt R. die Interpretationsgemeinschaft des Neuen Testaments - heißt: die Kirche - ins Spiel, die dem Kanon nur dadurch gerecht werden kann, dass sie je die Texte zu verstehen versucht, die ihrerseits ihr Verständnis Jesu Christi dokumentiert haben.

Um dieses Konzept zu konkretisieren, geht R. in vier Schritten vor. Der erste Schritt zeigt, dass und wie eine Geschichte - aus der Perspektive der Leser - verstanden werden kann, wenn man (zugespitzt formuliert) die Autoren ihrerseits als Leser und Hörer der Jesus-Christus-Geschichte betrachtet, die nicht alles haben sehen können und keine zeitlosen Wahrheiten verkünden, sondern an ihrem Ort und in ihrer Optik das bezeugen, was ihnen an Einsicht gegeben war. Widersprüche zwischen den Texten und Einsprüche gegen sie sind dann eingeschlossen.

Im zweiten Schritt verankert R. diese Multiperspektivität in der Geschichte Jesu, indem er deren Metaphorik betont, die ihrerseits existentielle Erfahrungen jenseits dogmatischer Instruktionen ermögliche und je neue Übersetzungen anstoße.

Der dritte Schritt stellt explizit die Wahrheitsfrage und gibt eine Antwort unter der Voraussetzung, dass das Neue "auf letzte Fragen vorletzte Antworten" gebe (70), aber im Kern auf Offenbarung zurückgehe, also eine Wahrheit, die nicht zu erschließen, abzuleiten oder zu deduzieren wäre. Diese Offenbarung wird aber in den neutestamentlichen Texten, so R., nicht festgestellt, sondern in den Erfahrungsrahmen gestellt, den diese Offenbarung konstruiert und innerhalb dessen überhaupt nur eine Auseinandersetzung mit der Offenbarung geschehen kann.

Der vierte Schritt untersucht die Frage, was es bedeute, dass man es beim Neuen Testament mit Texten zu tun habe, die aus ihrer Sicht Ereignisse beschreiben und Geltungsansprüche stellen, aber nicht auf eine einzige richtige Bedeutung festzulegen seien.

Der hermeneutische Ansatz ist - in der Tradition existentialer Theologie - vielversprechend. Er führt aus einem starren Verständnis biblischer Wahrheit heraus. Er redet einem vielfachen Schriftsinn das Wort. Er weist auf den Übertritt vom Text zum Leben hin, der den Texten selbst - in der Perspektive der Nachfolge Jesu - eingeschrieben ist.

Die Hermeneutik bemüht sich erfolgreich um Kürze und Verständlichkeit. Deshalb ist es müßig, darauf hinzuweisen, was man auch noch alles sonst hätte behandeln können - wiewohl die Tatsache, dass das "Neue Testament" immer das "Alte Testament" voraussetzt, vielleicht doch stärkere Bedeutung verdient hätte.

Problematisch scheint an einigen Stellen, z. B. im Passus über die Kreuzestheologie, die Gegenüberstellung von Faktum und Bedeutung. Erkennt nicht Paulus die theologische Bedeutung des Kreuzestodes gerade deshalb, weil er ganz genau hinschaut, was geschehen ist? Und ist es nicht der Anspruch, das Ereignis gerade deshalb als solches zu erkennen, weil es sub specie dei betrachtet wird? Damit hängt ein zweites Bedenken zusammen. Eine jüngere Aufsatzsammlung von Umberto Eco trägt den Titel "Die Grenzen der Interpretation". So wichtig die Betonung der Multiperspektivität des Neuen Testaments ist - lässt sich in rezeptionsästhetischer Perspektive auch plausibel machen, weshalb das Neue Testament "nur" 27 Schriften (und gerade diese hat)? Ein reines Machtwort der Kirche kann es nicht sein, was der exegetischen Theologie Orientierung gibt. Welches Verhältnis besteht zwischen Ereignis und Erinnerung, Offenbarung und Zeugnis? Darüber kann das Gespräch starke Impulse der vorzüglichen Hermeneutik aufnehmen, die R. vorgelegt hat, zumal dann, wenn seine "Historik" (Leipzig 2003) einbezogen wird.

In dem Bändchen aus der Reihe "Forum Theologische Literaturzeitung" geht R. davon aus, dass der Geschichtsbezug für den christlichen Glauben konstitutiv ist und dass er im Kern nur über das Neue Testament zu erschließen sei, dass aber durch das kulturwissenschaftliche Paradigma dieser Geschichtsbezug in Frage gestellt worden sei und dass gerade dies die Chance einer Neuorientierung eröffne.

In drei Anläufen wird das Themenfeld bearbeitet. Der erste soll das "Scheitern der Heilsgeschichte" belegen, indem am Beispiel kirchlicher Schuldbekenntnisse die Schwierigkeit einer Vereinnahmung jüdischen Leides für eine christliche Dialektik von Heil und Gericht demonstriert, gleichzeitig aber "Auschwitz" als Ende jeder Heilsgeschichte dargestellt wird, die eine "Denkform der siegreichen, herrschenden Religion" wäre (29). R. weist zu Recht darauf hin, dass vom Neuen Testament ein solches Modell der Heilsgeschichte nicht gedeckt ist. Aber ist damit "Heilsgeschichte" als solche obsolet geworden? Oder müsste man einen neutestamentlichen Begriff der Heilsgeschichte erst noch entdecken - jenseits von Barth und Bultmann? Auf Pannenberg und Wilckens geht R. nicht ein. Vor allem fehlt ein Blick auf die katholische Theologie. Müsste man den Vorwurf eines sublimen Triumphalismus mit antijüdischer Tendenz auch gegen das Offenbarungsdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils, "Dei Verbum", erheben? Die Wirkung war eine andere, wie jüngst das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission über "Das Jüdische Volk und seine Heilige Schrift im Licht der christlichen Bibel" (2001) zeigt. Es wäre interessant, die Diskussion an dieser Stelle noch weiterzuführen, zumal Ulrich H. J. Körtner (Versöhnte Verschiedenheit. Ökumenische Theologie im Zeichen des Kreuzes, Bielefeld 1996) in einer Dominanz des offenbarungsgeschichtlichen Denkens eine römisch-katholische Schlagseite erkennt (während die katholische Theologie gemeinhin eine Adaption reformatorischer Theologien diagnostiziert).

Der zweite Abschnitt behandelt das Thema "Geschichtstheorie und Neues Testament". Innovativ ist der Ansatz, vom Neuen Testament selbst aus Kriterien der Problematisierung und Lösung zu gewinnen. R. sieht sie darin, dass im Neuen Testament im Grunde nicht die reine Faktizität, sondern die Bedeutung bestimmter Ereignisse interessiere, dies aber (was dem Positivismus Schwierigkeiten machte) kompatibel mit dem - gemäßigten - Konstruktivismus sei, der in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft reüssiere. Die nachösterliche Prägung der Jesusbilder fängt R. mit der - aus der Psychologie entlehnten - Kategorie der Nachträglichkeit ein und erhellt am Beispiel der johanneischen Parakletsprüche die neutestamentliche Ansicht, erst vom Gesamt der Jesus-Christus-Geschichte (einschließlich der Auferweckung) seien bestimmte Details zu verstehen. Das ist eine wichtige Einsicht, die in der Jesusforschung, die nach wie vor auf imaginierte Gleichzeitigkeit und Neutralität setzt, erst noch eingeholt werden muss. Aber was schützt vor Projektionen? Muss nicht doch die reale Geschichte als Ausgangspunkt der Deutung festgehalten werden? Und liegt nicht die Provokation neutestamentlicher Theologie im homo factus est? Muss die Bedeutung nicht dem Geschehenen abgewonnen werden, weil Gott in der Geschichte gehandelt, ja Geschichte gemacht hat?

Der dritte Abschnitt wendet sich dem neutestamentlichen Geschichtsverständnis zu. R. vertritt die These, Gottes Handeln in der Geschichte sei metaphorisches Sprachhandeln (79), das als solches immer einen Plural an Interpretationen freisetze. Eine Leitthese lautet: "Wenn christlicher Glaube und Theologie die Auferstehung Jesu Christi als Metapher für das einmalig-endzeitliche Handeln Gottes behaupten, implizieren sie damit einen anderen Wirklichkeitsanspruch als die Geschichtswissenschaften" (85). Dieser Satz ist allerdings im ersten Teil nur dann richtig, wenn klar ist, dass Metaphern prädizieren (und auch Begriffe Interpretationsspielräume eröffnen), und im zweiten Teil kann er nicht zu einer Relativierung fundamentaltheologischer Glaubensverantwortung führen. Will man der Gefahr, eine doppelte Wahrheit zu postulieren, ausweichen, müsste wohl gesagt werden, dass der theologische Geschichtsbegriff nicht im Widerspruch zum historischen stehen dürfte.

Dass er solche - und ähnliche - Fragen zur Diskussion anstößt, ist R. herzlich zu danken. Seine Beiträge sind wichtige Bausteine evangelischer Hermeneutik der Gegenwart mit erheblichem ökumenischen Potential.