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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1066 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rau, Eckhard

Titel/Untertitel:

Das geheime Markusevangelium. Ein Schriftfund voller Rätsel.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. 96 S. u. 1 Einlegebl. 8. Kart. Euro 14,90. ISBN 3-7887-1947-8.

Rezensent:

Jens Schröter

Die kleine Studie widmet sich einem Text mit einer kuriosen Fundgeschichte. 1958 entdeckte der amerikanische Forscher Morton Smith in einem Kloster nahe Jerusalem auf den Einbandseiten einer Ausgabe der Ignatiusbriefe von 1646 den Auszug eines Briefs von Clemens von Alexandrien an einen gewissen Theodoros, in dem von verschiedenen Erweiterungen des Markusevangeliums berichtet wird, die z. T. auf Markus selbst, z. T. auf den Häretiker Karpokrates zurückgingen. Mit seinen eigenen Ergänzungen habe Markus ein "geistlicheres" bzw. "geheimes" Evangelium geschaffen, von dem Clemens zwei Episoden mitteilt.

Zu den Merkwürdigkeiten, die sich um diesen Text ranken, gehört, dass offenbar niemand außer Smith selbst das Manuskript je gesehen hat. Erst in jüngster Zeit haben mit Charles W. Hedrick und Guy Stroumsa zwei Forscher erklärt, die Fotografien von Smith, im Fall von Stroumsa sogar das Original selbst (und zwar bereits 1976!) gesehen zu haben. Diese Stellungnahmen sind, gemeinsam mit weiteren Äußerungen zum Geheimen Markusevangelium (= GMk), im Internet nachzulesen (http://www-user. uni bremen.de/~wie/Secret/ secmark_home.html).

Raus Untersuchung beginnt mit Bemerkungen zur aktuellen Kontroverse über die Stellung außerkanonischer Texte in der Geschichte der Jesusüberlieferung. Vor diesem Hintergrund soll geprüft werden, wie sich das GMk in die frühe Jesusüberlieferung einzeichnen lässt.

Nach Darstellung der Forschungsdiskussion seit der umfangreichen Publikation von Smith aus dem Jahr 1973 wendet sich R. der Interpretation der Fragmente zu, die auf einem eingelegten Blatt in Original und deutscher Übersetzung beigegeben sind. Fragment 1, zwischen Mk 10,34 und 35 platziert, berichtet von der Auferweckung eines jungen Mannes durch Jesus, der in der folgenden Nacht bei ihm bleibt und über das Geheimnis des Gottesreiches belehrt wird. R.s Analyse von Aufbau, Sprache und Stil des Fragments führt zu dem Ergebnis, es handle sich um einen sehr gekonnten Einschub in das MkEv, der sprachliche Merkmale und inhaltliche Motive anderer Episoden aufnimmt und in einer kohärenten Erzählung verdichtet. Die Intention des Textes bestehe darin, den Jüngling als Empfänger geheimer Belehrung und damit als Autorität hinter dem MkEv zu installieren, wozu er sich der rätselhaften Erwähnung des fliehenden Jünglings in Mk 14,51 f. bediene. Analogien zu diesem Verfahren konstatiert R. bei dem Lieblingsjünger des JohEv, der Figur des Thomas im EvThom sowie bei Maria Magdalena im EvMar. In allen Fällen werde die Authentizität der jeweiligen Form der Jesusüberlieferung durch Garanten aus dem unmittelbaren Umfeld Jesu verbürgt. Das MkEv werde auf diese Weise in Diskussionen des 2. Jh.s über Autoritätsträger und esoterische Überlieferungen hineingezogen. Dies erkläre auch die in der Episode erwähnte Opposition der Jünger.

In Fragment 2, eingeschoben zwischen Mk 10,46a und b, heißt es lapidar, Jesus habe in Jericho die Schwester des Jünglings, seine Mutter und Salome nicht aufgenommen. Der Sinn dieser Bemerkung ist kaum zu entschlüsseln. R. hält die Vermutung von Smith, Clemens habe hier eine Episode aus dem GMk gekürzt und in ihrem Sinn verändert, für erwägenswert. Die Grenzen des methodisch Kontrollierbaren sind dabei freilich schnell erreicht, weshalb sich R. weitergehender Spekulationen enthält.

R. ist sich des schwankenden Bodens, auf den er sich mit der Untersuchung der Fragmente begeben hat, ebenso bewusst wie der Gefahr, sich zu gewagten Hypothesen verführen zu lassen. Diese kritische Selbstreflexion zeichnet seine Studie aus. Plausibel ist die Deutung von Fragment 1 als Versuch, das MkEv Diskursen des 2. Jh.s dienstbar zu machen. Zudem könnte das GMk eine frühe Rezeptionsgeschichte des MkEv in Alexandrien bezeugen. Ob sich die Annahme der Unabhängigkeit von weiterer Überlieferung, insbesondere von Joh 11, bewähren wird, erscheint dagegen fraglich. Auch die Kennzeichnung des Jünglings als der, "den Jesus liebte", in Fragment 2 könnte eine Vertrautheit mit johanneischer Sprache nahe legen. In diesem Fall läge eine Analogie zu Papyrus Egerton 2 vor, wo eine "synoptische" Episode mit einem johanneischen Zusatz verknüpft wird.