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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lieu, Judith M.

Titel/Untertitel:

Christian Identity in the Jewish and Graeco-Roman World.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2004. X, 370 S. 8. Lw. £55,00. ISBN 0-19-926289-6.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Christianus sum. Nach einhelligem Zeugnis der frühchristlichen Quellen seit dem 2. Jh. war dies das Bekenntnis, mit welchem die christlichen Märtyrer ihrem Leben ein endgültiges Merkmal aufprägten und damit ihr Ende besiegelten, auf Griechisch oder Latein, in der männlichen oder weiblichen Form, jedenfalls immer im Singular der 1. Person: Ich bin ein christianus. Aber was war damit gesagt? Welches Bild machten sich diejenigen, vor denen ein solches Bekenntnis ausgesprochen wurde, und was verstanden die Leser der frühchristlichen Märtyrerakten unter diesem Begriff? Offenbar konnten sie daraus zunächst nicht ohne weiteres eine Auskunft über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft entnehmen, denn derartige Namen für bestimmte Kulte waren unüblich, und ebenso wenig konnten sie ihn als eine ethnische Selbstbezeichnung verstehen, denn dafür eignete sich das Wort christianus nicht. Gleichwohl begegnet die Selbstbezeichnung geradezu stereotyp und unerklärt in herausgehobenen Zusammenhängen der frühchristlichen Literatur.

Dies ist einer der Ausgangspunkte, von denen her Judith Lieu, Professor of New Testament Studies am King's College London und Herausgeberin der New Testament Studies, des Fachorgans der internationalen Neutestamentlergesellschaft, in dem vorliegenden Buch ihre These entwickelt. Die Aufgabe, der sie sich widmet, besteht darin zu klären, wie die Jesusanhänger im Laufe der ersten beiden Jahrhunderte zu einer eigenständigen, auch nach außen hin erkennbaren religiösen Gruppierung wurden, in der Terminologie von L.: "to explore ... how they construct a distinctive identity" (11). Dabei konzentriert sie sich aus nahe liegenden Gründen von vornherein auf die literarischen Zeugnisse: "it is the textual construction of early Christianity that will form the central and controlling thread in what follows" (8).

Nach Erwägungen zu den Begriffen Identität und Konstruktion und ihrer Anwendung auf die griechisch-römische Antike benennt sie in der "Introduction" (1-26) Gegenstand und Methodik für die folgenden acht Hauptkapitel, in denen sie unterschiedliche Aspekte der Konstruktion christlicher Identität näher untersucht: "Text and Identity" (27-61), "History, Memory, and the Invention of Tradition" (62-97), "Boundaries" (98-146), "The Grammar of Practice" (147-177), "Embodiment and Gender" (178-210), "Space and Place" (211-238), "The Christian Race" (239-268), "The Other" (269-297).

Zwar zielt die Untersuchung auf die Herausbildung christlicher Identität, aber zum Vergleich werden dabei jeweils auch pagane griechische und römische sowie frühjüdische Quellen herangezogen. Daraus ergibt sich der Aufbau der einzelnen Kapitel, in denen in der Regel, wenn auch keineswegs schematisch und gelegentlich in wechselnder Reihenfolge, Abschnitte zur griechisch-römischen Welt, zum Frühjudentum und zu den neutestamentlichen Schriften aufeinander folgen, an die sich die Darstellung und Diskussion der christlichen Zeugnisse des 2. Jh.s anschließt. Hilfreiche Zwischen- oder Kapitelzusammenfassungen (nicht immer als solche gekennzeichnet) erheben den Ertrag für den Fortgang der Untersuchung als Ganzer.

Schon diese Anordnung der Kapitel und ihre innere Gliederung stellen insofern einen Gewinn dar, als hier nicht in scheinbar chronologischer Folge Heiden, Juden und Christen nacheinander abgehandelt werden, sondern die verschiedenen Quellenaussagen in den thematisch bzw. nach bestimmten Fragestellungen geordneten Kapiteln am jeweils geeigneten Ort zur Geltung gebracht werden können. Denn darin liegt eine wesentliche Pointe der These von L., dass eine klare Abgrenzung zwischen heidnischer, jüdischer oder christlicher Identität in ihrem Untersuchungszeitraum noch nicht gegeben, sondern allenfalls gerade im Entstehen begriffen ist.

Dem Verhältnis von Judentum und Christentum kommt freilich dabei noch einmal eine spezifische Bedeutung zu, die zwar nicht in einem eigenen Kapitel behandelt, aber in den Längsschnitten der Themenkapitel ständig gewürdigt und in der Schlusszusammenfassung noch einmal explizit aufgegriffen wird (305-308). Dabei lässt L. deutlich Reserven gegenüber der inzwischen verbreiteten Metapher vom Auseinandergehen der Wege ("parting of the ways") erkennen: "The dividing of paths does not determine who will choose to walk along them, nor who will journey without regard to their different destinations." (306) Noch weniger geeignet für die Situation im 2. Jh. sei freilich eine binäre Terminologie und Denkweise, die Judentum und Christentum als zwei Religionssysteme nebeneinander oder einander gegenüber stelle.

Ihr eigener Beschreibungsversuch der Relationen ist - m. E. zu Recht! - derartig differenziert, dass er nur im Wortlaut wiedergegeben werden kann: "It is for all these reasons that we not only can but must say that in many situations Jews and Christians behaved as if there were no rigid boundaries to separate them, and that Jews and Christians shared a common culture, and that Judaism and Christianity are reciprocally exclusive - so long as reciprocal exclusivity is not taken to mean a necessary reciprocal antagonism, and so long as this opposition is as open to negotiation and mediation as all others. Yet if all three of these statements could have been true simultaneously at various times and places, we still have to explain how both insiders and outsiders, at least in their discourse, came to give priority to the reciprocal exclusivity of systems." (307)

Die einzelnen Kapitel des Buches können hier nicht vorgestellt werden. Ihr Wert besteht auch weniger in textnahen Quellenanalysen oder umfassenden Erhebungen zu Einzelphänomenen. Vielmehr verfolgt L. eine klar erkennbare Argumentationsstrategie, die den Leser dazu bewegen soll, ihre Gesamtsicht auf das Phänomen der Herausbildung und Definition christlicher Identität in den ersten beiden Jahrhunderten nachzuvollziehen. Gleichwohl zeichnet L. eine seltene Kompetenz hinsichtlich der Breite der herangezogenen Quellenbereiche und der Tiefe der Durchdringung ihrer Interpretationsprobleme aus. Dies führt dazu, dass ihre theoretisch-methodischen Überlegungen und Argumente nie zum Selbstzweck werden, sondern immer wieder neue Blickwinkel auf zum Teil durchaus vertraute Quellen und Phänomene eröffnen. Ihre Gesamtsicht ist - bei aller Differenziertheit der Ausführung - eine deutlich konstruktivistische. Identität wird gemacht, nicht empfangen oder entdeckt (vgl. die Überschrift der Zusammenfassung [nach Tertullian, Apol. 18.4]: "Made Not Born", 298-316). Die bemerkenswert reiche literarische Produktion des frühen Christentums in den ersten beiden Jahrhunderten ist zugleich Ergebnis und Ausdruck solcher Bemühung, christliche Identität zu bilden und zu stärken. Ihre Untersuchung, und sei sie noch so detailliert, differenziert und umfassend, führt eben nicht zu einer eindeutigen und dauerhaft gültigen Beschreibung des Wesens des Christentums, sondern immer wieder neu vor die Frage: Wer oder was ist ein christianus? "We shall not be able to describe or to explain the nature of Christianity and its expansion, but we should be prompted to reflect again on the search for its essence, the ever-elusive answer to the question, What is Christianity?" (26)