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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

509 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Keil, Günther

Titel/Untertitel:

Das Johannesevangelium. Ein philosophischer und theologischer Kommentar.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 254 S. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-525-53642-9.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

"Nur das Metaphysische, keineswegs aber das Historische, macht selig" - lesen wir in J. G. Fichtes Anweisung zum seligen Leben (1800) und in unmittelbarer Nachbarschaft finden sich Worte zum Preise des Johannesevangeliums, wie man sie von dem des Atheismus verdächtigten Philosophen des emanzipatorischen Idealismus kaum erwartet. So ist es wohl kein Zufall, daß jene beiden Theologen unseres Jahrhunderts, die sich am stärksten vom Denken Fichtes inspirieren ließen, Friedrich Büchsel und Emanuel Hirsch, ingeniöse Auslegungen des vierten Evangeliums verfaßt haben. Ihnen hat sich nun ein im theologischen Raum wirkender Lehrer der Philosophie, der Marburger Günther Keil zugesellt, der einen philosophischen und theologischen - in dieser Reihenfolge! - Kommentar zum Johannesevangelium vorlegt. Der Vf. war seit langem über seinen Wirkungsort hinaus bekanntgeworden durch seine philosophischen Grundlegungen der Glaubenslehre (vgl. ThLZ 102, 1977, 529f.; 113, 1988, 391 f.) sowie durch Grundrisse zur Ontologie (vgl. ThLZ 110, 1985, 688) und zur Philosophiegeschichte (vgl. ThLZ 112, 1987, 293 f.; 113, 1988, 286f.). Fichte ist neben Plato, Leibniz, Kant und Schelling einer der Zeugen, die das Profil dieses Kommentars, der im zwiefachen Sinn außerhalb der Reihe steht, bestimmen.

Die Auslegung ist in 14 Unterabschnitte gegliedert, die im allgemeinen der Anordnung der Verse in der vorliegenden Gestalt des Evangeliums folgt, in einer Reihe von Fällen jedoch so vorgeht, wie man es aus den Kommentaren von Bultmann und Schnackenburg kennt, wo die später begründete literarkritische Analyse bereits für die Präsentation maßgebend ist. Diese erfolgt im Viererschritt, wobei nach der Übersetzung zunächst vom Text (häufig unter analytisch-kritischem Blickwinkel) die Rede ist, dann voneinander getrennt unter den Überschriften Auslegung und Begegnung die theologische und schließlich die philosophische Durchdringung erfolgt. Schon der Titel signalisiert, daß in der letzteren das Spezifikum dieses Kommentars liegt.

Hier einige Proben: Zu 3,16: "Gott steht nicht in unnahbarer Statik getrennt vom Relativen unantastbar da, sondern ergießt sich abschattend in das Relative hinein, diesem Sinn und Wahrheit verleihend, um durch dieses hindurch sich wieder in sich selbst zurückzunehmen" (59). - Zu 4,24: "Auch
die Zeit wird also durch Geist und Wahrheit entschränkt, überwunden; Geist und Wahrheit gehören vielmehr der Ewigkeit an (87). - Zu 7,38: "Trotz aller Pluralität ist also nicht das Partielle, sondern das Universale in Jesus das, worauf sich die christlichen Gedanken gemeinsam richten. Dieses Gemeinsame aber und doch so unterschiedlich Gedachte ist das ewige Leben alles Partiellen in der bleibenden Universalität Gottes, die alles in der Liebe wieder zusammenfaßt" (132). Es kann nicht überraschen, daß einer durch diese Zitate charakterisierten Interpretationsweise eine hermeneutische Vorentscheidung korrespondiert, die das Alttestamentliche, gar Jüdische völlig ausblendet und statuiert: "Das Denken der johanneischen Texte ist ein frühneuplatonisch-griechisches, zumindest hellenisiertes Denken und zumindest primär kein semitisches oder hebräisch-alttestamentliches" (126).

Der andere problematische Aspekt ist die mit der Auslegung eng verwobene literarkritische Analytik. Der Vf. folgt hier Marburger Tradition, geht dabei freilich einen eigenen Weg, den er gegen Ende des Werks so charakterisiert: "Das Johannesevangelium läßt sich nur als Evangelienharmonie aus verschiedenen zugrundeliegenden Evangelien angemessen verstehen" (218). Es seien die vier Schichten A, B, C, D, deren Unterscheidung es erst ermögliche, "den vorliegenden Text plausibel zu machen und seine Schwierigkeiten zu beheben" (124). Dabei geht es nicht nur um Kapitel- bzw. Perikopenumstellung, von der im Mittelteil cap. 4-10 ausgiebig Gebrauch gemacht wird, vielmehr werden die Schichten dem inhaltlichen Profil nach gegeneinander abgesetzt: A als Grundschrift (203), B als das platonisierende Evangelium, das vom Deutungsmuster Urbild-Abbild bestimmt ist (113), C als Kunde von einer Erlösung durch eine gnostische Erlösergestalt, D als kirchlicher Redaktion (der etwa Joh 6,51-58 zugewiesen wird).

Der Rez. muß allerdings gestehen, daß ihm Eugen Ruckstuhls Antikritik überzeugender erscheint als der Marburger Traditionalismus, als dessen Spätfrucht dieser literarkritische Entwurf gelten kann. Das Geschichtliche - nicht nur das Historische im engeren Sinn der biographischen und topographischen Realien - tritt, obwohl die Schichten doch wohl auch eine zeitliche Abfolge intendieren, deutlich zurück. Es ist charakteristisch und keineswegs nachlassender Intensität des Auslegens zuzuschreiben, daß die vier Kapitel 18-21 auf knapp 15 Seiten (226-241) abgehandelt werden. Daß dabei die These des Außenseiters K. A. Eckhardt wiederauflebt, die den Lieblingsjünger mit Lazarus identifizierte, sei nur am Rande vermerkt. Vielleicht hätte der Autor besser getan, wenn er wie einst E. Hirsch die Auslegung von der literarkritischen Analyse entlastet und einen eigenen Band Studien zum vierten Evangelium vorgelegt hätte. Aber auch unabhängig davon bleibt der Kommentar ein Werk außerhalb der Reihe, auf seine Weise ein Versuch pneumatischer Exegese, das jenem Buch gilt, das die Alten das pneumatische Evangelium nannten, zugedacht philosophisch geschulten Lesern, die "philosophisch und theologisch mitzudenken bereit sind" (Vorwort).