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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1055–1057

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rendtorff, Rolf, and Robert A. Kugler [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Book of Leviticus. Composition and Reception. Ed. with Assistance of S. Smith Bartel.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. XVIII, 475 S. gr.8 = Supplements to Vetus Testamentum, 93; Formation and Interpretation of Old Testament Literature, 3. Lw. Euro 140,00. ISBN 90-04-12634-1.

Rezensent:

Erhard S. Gerstenberger

Der Gedanke, einzelne biblische Bücher von einem Team internationaler Spezialisten interpretieren zu lassen, verdient hohes Lob. Nur eine mehrdimensionale, interkulturelle Auslegungsarbeit kann der Komplexität biblischen Schrifttums Genüge tun. So haben auf Einladung der Herausgeber 22 europäische und US-amerikanische Forscher und Forscherinnen (andere Kontinente bleiben leider außen vor) ihren selbst gewählten Präferenzen im Blick auf das ominöse dritte Buch des Pentateuch freien Lauf gelassen. (Vorher schon sind in der FIOTL-Reihe Sammelwerke über Jesaja und Daniel erschienen; später kam der Psalter-Band hinzu.) Das Ergebnis ist ein prickelnder Cocktail von methodologischen und sachlichen Zugängen zu einem besonders in der christlichen Tradition als enigmatisch empfundenen Teil der hebräischen Bibel.

Die Herausgeber organisierten die eingegangenen Beiträge in vier Hauptabschnitten: Der erste ist literarischen Fragen gewidmet. Im zweiten Teil geht es um "Cult and Sacrifice", im dritten um das nahe verwandte Thema "Priesthood in Leviticus". Am Ende steht das mit über 200 Seiten und zehn Abhandlungen umfangreichste Segment "Leviticus in Translation and Interpretation"; es schließt ab mit zwei Untersuchungen zur Gender Problematik im altisraelitischen Kult. Insgesamt befasst sich dieser Abschnitt mit den Nachwirkungen des Dritten Mosebuches von der hellenistischen Zeit bis in die Gegenwart.

Im literarischen ersten Teil stehen die traditionellen Fragen nach Art und Umfang, Struktur und Gattung der priesterlichen Schichten im Pentateuch zur Debatte und müssen - weil die aktuelle Diskussion unter den Autorinnen und Autoren generell fehlt - von Leserin und Leser miteinander ins Gespräch gebracht werden. B. Levine ("Leviticus: Its Literary History and Location in Biblical Literature", 11-23) sieht das Heiligkeitsgesetz Lev 17-27 als den Grundstock des Buches, dem die anderen priesterlichen Traditionen in der nachexilischen Zeit zuwachsen. Zu den außerbiblischen Indizien für diese Ansetzung zählt er Anklänge an aramäischen und persischen Wortgebrauch, z. B. cdh, "Versammlung" (Lev 4,15 usw., auch in den Elephantine Texten gebraucht); dgl "Heeresabteilung; Fähnlein" (Num 2,2 f. usw. persischer Terminus). "... what is projected in Numbers as the Israelite encampment of the wilderness period is really a mirror-image of the Persian system of military colonies on the borders of empire." (19) J. Milgrom ("HR in Leviticus and Elsewhere in the Torah", 24-40) dagegen streitet vehement für den Vorrang der Priesterschrift und eine spätere, von den Tradenten des Heiligkeitsgesetzes ("95 % of H's material is the product of the eighth century", 25) durchgeführte, umfassende Redaktion von P, welche alle ihre Komponenten erfasst hat. Besonders die Schöpfungsgeschichte mit der Sabbatheiligung "must be assigned to the pen of the redactor, HR" (36). Weil diese Redaktionsschicht fast in jedem Wort anti-babylonische Polemik verrät, muss sie aus der babylonischen Golah stammen (34-37).

In seiner beschwingten und tief blickenden Art verbindet G. Auld ("Leviticus: After Exodus and Before Numbers", 41-54) Motive und Strukturen (z. B. "foundation traditions" um Zion und Sinai, 43 f.) quer durch die hebräischen Schriften und findet dadurch genügend Eigenständiges für jedes "Buch". Auch A. Ruwe ("The Structure of the Book of Leviticus in the Narrative Outline of the Priestly Sinai Story [Exod 19:1 - Num 10:10]", 55-78) erklärt Leviticus für eine literarische, durch Lev 9,1 in zwei Hauptteile gegliederte Einheit (61 f.). Weil die Zeitschiene so wichtig ist, klassifiziert Ruwe das ganze Buch als "Erzählung"! Entgegenstehende Form- und Gattungsmerkmale interessieren ihn nicht. Er sollte unbedingt den folgenden Beitrag von J. W. Watts, "The Rhetoric of Ritual Instruction in Lev 1-7" (79-100) zu Herzen nehmen. Hoch sensibel für Sprachformen, Aussageintention ("persuasion") und Sitz im Leben (siehe auch A. Marx, 103-120; L. L. Grabe, 207-224) versucht Watts Klarheit in die Gattungsdiskussion zu bringen, die allerdings durch falsche Assoziationen zum "kasuistischen Recht" vernebelt wird. Altorientalische "Ritualanweisungen" der babylonischen Beschwörungen könnten über Watts Versuche hinaus weiterhelfen.

Den zweiten Teil eröffnet A. Marx mit einer genauen Analyse der Opferarten: "The Theology of the Sacrifice According to Leviticus 1-7" (103-120). Die Vorschriften sind nicht nur für Priester, sondern auch für die Gemeinde niedergelegt (119). M. Douglas, die - als Anthropologin! - wie kaum jemand sonst die Leviticus-Forschung angeregt hat, fährt fort mit ihrer Studie zu Lev 16: "The Go-Away Goat" (121-141). Sie weist R. Girards Opfer- und Verfolgungstheorie zum Sündenbockritual zurück und plädiert für einen im babylonischen Umfeld politisch relevanten Versöhnungsritus. Ein Bock exkulpiert Israels Sünden draußen in der Welt (vgl. Lev 14,6 f.53: zwei Vögel), wie es auch Joseph tat, in Ägypten (137 f.). Das ist eine Friedensbotschaft an alle Abrahamskinder außerhalb Israels (139). W. H. Houston ("Towards an Integrated Reading of the Dietary Laws of Leviticus", 142-161) thematisiert in Auseinandersetzung mit Philo von Alexandrien, Jacob Milgrom und Mary Douglas das Problem "Ritual und Ethik". Tabuisierte Lebewesen sollen nach priesterlicher Erkenntnis nicht verteufelt, sondern an jeweils ihren Ort im Kosmos gestellt werden. Die loyale Einhaltung dieser - für uns nicht mehr gültigen - Ordnung ist ethische Pflicht.

In der Beurteilung der Inzestverbote folgt A. Schenker aufgeklärten, abendländischen Spuren ("What Connects the Incest Prohibitions with the Other Prohibitions Listed in Leviticus 18 and 20?", 162-185). Alle Verbote wollen schlicht die Gemeinschaft vor dem Zerfall bewahren; magische, irrationale Motive spielen keine Rolle. Die Todesdrohungen von Lev 20 werden als gerichtsrelevant hingenommen.

Drei Beiträge zum Priestertum folgen dichtauf. Für R. Péter-Contesse (Le sacerdoce", 189-206) war und ist der Priester "Mittler zwischen Gott und Menschen" und "Repräsentant der Menschen vor Gott". Urbild ist Aaron; Mose überragt die Priester: "Il est ainsi, à sa manière, préfiguration du Christ" (193). Nüchtern protestantisch dagegen wirkt L. L. Grabbe: "The Priests in Leviticus - Is the Medium the Message?" (207-224). Er zeigt überzeugend die sozio-ökonomische Verflechtung von Priester- und Laientum in der nachexilischen Jahwe-Gemeinschaft auf. "... in only two passages are the details so clearly aimed at a priestly audience, that they might have been written solely for priests: 6:-7:10 and 21:1-22:16. Everything else seems to apply to laity ..." (220 f.). C. Carmichael schließt direkt an: "Death and Sexuality Among Priests (Leviticus 21)", 225-244. Die scharfen Abgrenzungen für Priester sind rabbinisch exakt von Erzählungen hergeleitet (Carmichaels Lebensthema!): Ri 19 liefert den Stoff für das Verbot von Totenberührung und Trauerriten, 1Sam 2-4 und Lev 10 für den Ausschluss physisch Behinderter vom Priesteramt. Die Argumentationen sind für historisch-kritisch Denkende haarsträubend, aber wer weiß, wie viel schriftgelehrte Interpretationskunst tatsächlich in Leviticus eingeflossen ist?

Für den schwergewichtigen Teil 4 bleibt wenig Raum. Die alten Versionen beweisen viel Treue gegenüber den hebräischen Originalen: S. Metso und E. Ulrich, "The Old Greek Translation of Leviticus", 247-268; M. McNamara, "Reception of the Hebrew Text of Leviticus in the Targums", 269-298; D. J. Lane, "The Reception of Leviticus: Peshitta Version", 299-323. Die Artikel bleiben philologisch-gelehrt, Untersuchungen über die Empfängergemeinden fehlen.

Leviticus in der Qumrangemeinschaft ist ein spannendes Thema, weil die Abweichler ja selbst kräftig an der Überlieferung weitergeschrieben haben. P. W. Flint ("The Book of Leviticus in the Dead Sea Scrolls", 323-341) und R. A. Kugler ("Rethinking the Notion of Scripture in the Dead Sea Scrolls: Leviticus as a Test Case", 342-357) steuern viel Material und manche wichtige Einsicht bei (z. B. "scripture for the Essenes was no static entity", 342; "[they] swam in a much larger ocean of scripture and exegetical methods than we do", 357).

B. Chilton, "Jesus, Levitical Purity, and the Development of Primitive Christianity", 358-382 (Reinheitsregeln bleiben ungeahnt wichtig!); H. Harrington, "The Rabbinic Reception of Leviticus", 383-402, und G. Bodendorfer, "'nj jhwh God's Self-Introductory Formula in Leviticus in Midrash Sifra", 403-428, bringen manche unbekannten Interpretationen ans Licht. Ein Stück der notwendigen feministischen Exegese von Leviticus - Frauen müssen manche Bestimmungen als schmerzhaft diskriminierend empfinden! - erfolgt ganz am Ende des Bandes: L. S. Schearing, "Double Time ... Double Trouble? Gender, Sin, and Leviticus 12", 429-450; J. R. Wegner, "Coming Before the Lord: The Exclusion of Women from the Public Domain of the Israelite Priestly Cult", 451-465. Wie gut, dass diese Frauenstimmen hörbar werden! Männliche Vorurteile sind wirklich "founded on sociological bedrock far deeper than the topsoil of Israel's purity system" (450).

Insgesamt ist der Band eine aufregende, kontroverse, lohnende Lektüre. Er müsste durch mehr altorientalische, sozialwissenschaftliche, psychologische und theologische Untersuchungen auch über andere Kulturgrenzen hin weitergeführt werden.