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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1045 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Joas, Hans

Titel/Untertitel:

Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2004. 190 S. 8 = Herder Spektrum, 5459. Kart. Euro 9,90. ISBN 3-451-05459-0.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Der Soziologe Hans Joas, der in Erfurt und Chicago lehrt, hat mit engem Bezug auf sein zuvor entstandenes Buch über "Die Entstehung der Werte" einen Band mit Aufsätzen und Essays zu Religion und Religionstheorie vorgelegt. J. fragt nach der Möglichkeit religiöser Erfahrungen in einer pluralistischen und säkularen Gesellschaft. Schon das sollte evangelische Theologen aufhorchen lassen, denn J.s religionssoziologisches Programm orientiert sich am Begriff der "Erfahrung", und er verbindet damit Schlussfolgerungen und Thesen, die eminente Konsequenzen für die Theologie haben, auch wenn J. den Begriff der Erfahrung gerade nicht wie in der protestantischen Theologie üblich unter Rückgriff auf die Theologie Schleiermachers entwickelt. Seine Reflexionen bewegen sich jenseits der protestantischen Gegensätze von liberaler und dialektischer Theologie.

Der Band enthält vor allem zwei Texte, mit denen J. breitere Aufmerksamkeit im evangelischen Raum erreichte, zunächst und programmatisch am Anfang den Hauptvortrag, den er beim ökumenischen Kirchentag in Berlin hielt (12-31), sowie die zuerst unter dem Titel "Eine Rose im Kreuz der Vernunft" in der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichte Replik auf die Friedenspreisrede von Jürgen Habermas und seine viel gebrauchte Wendung von der postsäkularen Gesellschaft.

J. äußert sich sehr skeptisch gegenüber einer rein funktionalen Religionstheorie: Aus ihrem Nutzen für die Gesellschaft allein kann Religion nicht hinreichend erklärt werden. Eine soziologische Religionstheorie muss darum anthropologisch ansetzen, und J. findet diesen Ansatzpunkt im Begriff der Erfahrung. Am Ursprung der Religion stehen für ihn "Erfahrungen der Selbsttranszendenz" (17) oder Erfahrungen des Ergriffenseins. Solche Erfahrungen sind nicht schon an sich religiös, wohl aber können sie in religiöser Perspektive gedeutet werden.

Zwischen Erfahrung und Deutung besteht ein eminenter Zusammenhang: Niemand kann eine Erfahrung verstehen und in seine Lebensorientierungen integrieren, wenn er sie nicht zuvor gedeutet hat. Deutung und Erfahrung bedingen sich gegenseitig; sie lassen sich nicht im Schema einer Abfolge anordnen.

Dieser Zusammenhang darf nicht individualistisch verengt und verkürzt werden. Das war ein Vorwurf, der gegenüber der Religionstheorie von William James, auf den sich J. beruft, häufiger gemacht wurde.

Der Einzelne ordnet und deutet seine Erfahrungen innerhalb sozialer Deutungs- und Interpretationsgemeinschaften. Religionen (und Kirchen) sind für J. dann "reichhaltige Repertoires" (24) für die Deutung und Artikulation von religiösen Erfahrungen. Diese können in verschiedenen religiösen Medien verarbeitet werden: liturgisch, theologisch, spirituell, meditativ. Erst im Ineinander von religiöser Erfahrung und Deutung entsteht (religiöser) Sinn, der als Gewissheit individuell und sozial Gestalt gewinnt.

In der Säkularisierungstheorie war die Annahme beliebt, dass sich konkurrierende religiöse Sinnangebote und Gewissheiten gegenseitig behindern oder gar beschädigen und darum langfristig Religionsgemeinschaften in die Sektenexistenz abdrängen. In Auseinandersetzung mit Peter L. Bergers Theorie des Religionspluralismus entwickelt J. die These, dass Religionsgemeinschaften durch die Erfahrung des Pluralismus gerade nicht beschädigt, sondern bereichert werden. Unter den Bedingungen pluralistischer Gesellschaften sind Religionsgemeinschaften nicht verschwunden, vielmehr erleben sie in vielen Ländern außerhalb Europas eine neue Blüte.

Beide Thesen, das Insistieren auf einer Religionstheorie, die sich anthropologisch am Begriff der Erfahrung orientiert, sowie die Kritik an einer allzu schematisch verstandenen Säkularisierungstheorie, verbinden sich bei J. zu einer besonderen Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen. Die Soziologie kann weder die Religion noch das Christentum beweisen. Auch die Religion selbst kann den rationalen Nachweis ihrer Notwendigkeit nicht führen. Die Selbstevidenz religiöser Erfahrung lässt sich nicht überspringen: "Religion überhaupt und der christliche Glaube im besonderen können nicht logisch zwingend gemacht werden. Christen können ihren Glauben nur anbieten und Einladungen aussprechen, Christus nachzufolgen." (28) Das ist noch keine Theologie; es ist vielmehr der Versuch des Soziologen, Religion als anthropologisch sinnvolle Erfahrung zu deuten.

Diese religionstheoretischen und säkularisierungskritischen Grundentscheidungen bestimmen alle Beiträge des Buches: Sie bilden die Grundlage von J.s Auseinandersetzung mit den soziologischen, philosophischen und theologischen Religionstheorien von John Milbank, Paul Ricur, Jürgen Habermas, Avishai Margalit bis hin zu Charles Taylor, dessen Überlegungen zu Werten, Identität und Gesellschaft zum wichtigen Anreger von J.s eigenen Thesen wurden.

Drei Aufsätze über den Begriff der Menschenwürde (129- 168) stehen am Ende des Bandes. In ihnen wendet J. seine Thesen auf philosophische, theologische und soziologische Begründungen von Menschenwürde und Menschenrechten an.