Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

507–509

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hütter, Reinhard

Titel/Untertitel:

Theologie als kirchliche Praktik. Zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Lehre und Theologie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1997. 290 S. 8 = Beiträge zur evangelischen Theologie, 117. Lw. DM 98,-. ISBN 3-579-02026-9.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Mit der vorliegenden Veröffentlichung seiner Erlanger Habilitationsschrift will der z. Zt. an der Lutheran School of Theology at Chicago lehrende Vf. für die Theologie, dabei insbesondere die Dogmatik, einen Weg entwerfen, auf dem sie sich neu als genuin kirchliche Wissenschaft soll begründen, des näheren als Moment kirchlicher Praxis selber zur Durchführung bringen können. Veranlaßt sieht sich der Vf. zu einem solchen - seiner Meinung nach dem Zeitgeist strikt zuwiderlaufenden, von der "Sache des Evangeliums" (15) her aber geforderten - Unternehmen angesichts massiver kultureller Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen in der modernen Gesellschaft. Von deren Desorientierungsmacht weiß er auch Religion und Kirche keineswegs verschont. Er sieht, daß gerade die Kirche sie mit dem Verlust der gesellschaftsöffentlichen Verbindlichkeit ihrer Lehre und der manifesten Privatheit des Entscheidens über die Teilhabe oder Nicht-Teilhabe an ihrem (gottesdienstlichen) Leben massiv an und in sich selber erfährt.

Der Vf. leugnet nicht, daß dies die religiöse Lage ist, in der sich die real existierenden (Volks-)Kirchen in Europa und Nordamerika befinden. Er erhofft sich jedoch eine Bereinigung dieser Lage, der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Unübersichtlichkeit, der gravierenden Orientierungskrisen auch in religiöser Hinsicht, indem er die Theologie aus diesem zeitgeschichtlichen Kontext herausnimmt und in einen - dem Anspruch nach - theologisch deduzierten, kirchlichen "Begründungszusammenhang" hineinstellt. Die Kirche, die mit ihrer Lehre und ihrer gottesdienstlichen Praxis diesen, den Wirrnissen der Zeit enthobenen "Begründungszusammenhang" für die Theologie repräsentieren soll, kann dann freilich nicht hinsichtlich dessen in Betracht kommen, was sie als real existierende (Volks-)Kirche kennzeichnet (als solche gibt es sie ja nicht ohne ihre Mitglieder, insofern auch nicht ohne religiösen Pluralismus und Individualismus). Es darf hinsichtlich der substantiellen Bestimmung dessen, was die Kirche ausmacht, was ihre Praxis definiert und der Inhalt ihrer Lehre ist, weder auf ihre Geschichte noch gar auf diejenige Situation rekurriert werden, die sich heute etwa durch kirchliche Mitgliedschaftsbefragungen oder andere Erhebungen über das Verhältnis der Zeitgenossen zum Christentum sowie über die Selbstartikulation ihrer ethisch-religiösen Orientierungen gewinnen läßt. Das alles gehört für den Verf. allenfalls in den "Entdeckungszusammenhang" der Theologie, innerhalb dessen sie - wie im vorliegenden Buch auch - ihre Fragestellungen gewinnt. Davon strikt unterschieden halten will der Vf. den "Begründungszusammenhang" der Theologie, von dem er behauptet, daß er "durch spezifische Kernpraktiken und die kirchliche Lehre konstituiert" und von der Theologie in "pneumatologisch-ekklesiologischer Reflexion ... als der soteriologische Raum des Handelns Gottes" so zu entfalten ist, daß heutige Christenmenschen sich heilbringend mit ihrem Glauben und Leben in diesen Raum einbezogen finden (43).

Die "kirchlichen Kernpraktiken" und die sie in ihrem Vollzug normierende kirchliche Lehre sind nach Auffassung des Vfs. der Theologie vorgegeben (ob als eine supranatural zu verstehende göttliche Setzung oder als ein von der Kirche in ihrer Geschichte der Bildung von Kanon, regula fidei, Dogma und Bekenntnis selber mitkonstituierter Sachverhalt, bleibt unklar). Der Vf. kann sich freilich auf keinen Konsens innerhalb der real existierenden Kirche(n) und dem Pluralismus der Theologien hinsichtlich der Beschaffenheit dieser absoluten Vorgabe berufen. Soll es sich mit ihrer Behauptung nicht nur um eine fundamentalistische Attitüde handeln, muß sie also doch diskursiv ermittelt werden.

Über weite Strecken verfolgt vorliegende Habilitationsschrift denn auch die Absicht, einen Begriff kirchlicher Lehre allererst aufzubauen, der in seiner für christliches Glauben und Leben konstitutiven Funktion erfaßt ist und sich in seinem für die Grundvollzüge kirchlicher Praxis normativen Gehalt, somit auch in seiner ekklesiologischen Potenz, zur Darstellung bringen läßt. Dafür greift der Vf. zunächst auf das kulturell-sprachliche Modell der Mitteilung christlichen Glaubens, das der lutherische Theologe George Lindbeck zur Beförderung des ökumenischen Dialogs entwickelt hat, zurück (64-97). Sodann will er dieses Modell mit Anleihen beim Promissio-Begriff, wie ihn Oswald Bayer zum Zweck einer modernitätskritischen Apologetik lutherischer Theologie vorgeführt hat, mit substantialem Gehalt füllen (99-130). Da ihm bei Lindbeck wie bei Bayer die pneumatologische und die ekklesiologische Dimension in der für christliches Glauben und Leben konstitutiven Funktion kirchlicher Lehre noch nicht hinreichend zur Geltung gebracht sind, holt er dies anschließend nach, indem er Impulse der ostkirchlich-orthodoxen Communio-Theologie aufnimmt und diese mit Luthers Pneumatologie und Ekklesiologie vermittelt (157-199). Dieses mixtum compositum theologischer Reflexionsanstrengungen und Lehrbildungen, das auf unterschiedliche theologiegeschichtliche Epochen und konfessionsverschiedene Kirchen zurückführt und an sich selber unleugbar der konstruktiv-kompositorischen Tätigkeit eines theologisch gebildeten Autors entspringt, soll den - gleichwohl als absolut vorgegeben behaupteten - normativen Horizont fixieren, innerhalb dessen sich christlicher Glaube und christliches Leben auf rechte Weise bilden können, innerhalb dessen auch die Theologie nur ihren Gegenstand gewinnen kann. Die Theologie hat ihren Gegenstand angeblich nur vermittelt "durch den Schriftkanon, die kirchlichen Kernpraktiken und die Tradition kirchlicher Lehre", die den normativen Horizont kirchlicher Praxis - so wird gesagt- auf die "Heilsökonomie Gottes" hin inhaltlich qualifizieren (195).

Der letzte Teil der Arbeit beansprucht vorzuführen, wie eine "Theologie als kirchliche Praktik", heute, im säkularisierten 20. Jh., auszusehen hätte (201-268). Es soll eine Theologie sein, die der Versuchung des neuprotestantischen Liberalismus widersteht, die Sinngehalte der christlichen Glaubensüberlieferung auf subjektiv aneignungstaugliche Weise dem nach lebensförderlicher Sinnorientierung verlangenden gegenwärtigen Bewußtsein zu vermitteln. Damit hätte sich die Theologie nur der modernistisch verstandenen gesellschaftlichen Öffentlichkeit anbequemt. Sie soll freilich auch nicht in fundamentalistischer Manier Glaubenssätze als verpflichtende Lebenswahrheiten auf der Basis von Schrift und Bekenntnis bloß autoritär behaupten. Im Horizont ihres durch Schrift und Bekenntnis vorgegebenen Begründungszusammenhanges muß es der Theologie - so der Vf. - vielmehr darum gehen, die darin bezeugte "Heilsökonomie Gottes" sowohl diskursiv zum Ausweis zu bringen, als auch sie mit Bezug auf den "Entdeckungszusammenhang" theologischer Reflexion, der heute mit den Stichworten vom Pluralismus und Individualismus zu beschreiben ist, überzeugungskräftig mitteilbar zu machen.

In diesem letzten Teil der Arbeit bleibt allerdings gänzlich unerfindlich, wie die "Theologie als kirchliche Praktik" sowohl ihre diskursiv-begründende als auch ihre "präsentativ-kommunikative" Aufgabe lösen will. Letztere, also die heute in der Tat dringlich geforderte Aufgabe der Plausibilisierung der Sinngehalte kirchlich-christlicher Überlieferungsgehalte vor dem Forum des humanen Gegenwartsbewußtseins, wird durch die Gesamtanlage dieser "Theologie als kirchliche Praktik" geradezu unterlaufen, was wiederum damit zusammenhängt, daß ihr diskursiv-begründender Aspekt - vom Programm des Ganzen her verständlich - nur halbherzig seine Berücksichtigung findet. Diese Theologie arbeitet schließlich in der Beschreibung ihres Begründungszusammenhanges gerade mit der Behauptung von angeblichen Vorgegebenheiten, die dann freilich doch konstruktiv in einer Weise ermittelt werden, daß ihre diskursive Begründung allenfalls in Gestalt ihrer präsentativ-kommunikative Plausibilisierung erfolgen könnte (im Sinne evidenten Erschlossenseins ihrer Gehalte), was freilich nicht einmal mit Bezug auf den für vorliegenden Prospekt zentralen Begriff der "Heilsökonomie Gottes" auch nur ansatzweise eingelöst wird.

So wenig die Kirche, von der der Vf. redet, die irgendwo real existierende ist, so wenig stellt die vom Vf. skizzierte - sich geradezu exemplarisch in einer "Sondergruppensemantik" (N. Luhmann) einkapselnde - "Theologie als kirchliche Praktik" die Lösung irgendeines der Probleme in Aussicht, an denen sich eine in der Realität kirchlicher Praxis hilfreiche Theologie angesichts der vom Vf. durchaus zutreffend beschriebenen religiös-gesellschaftlichen Gegenwartslage abzuarbeiten hat.