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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

504–506

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Rebenich, Stefan

Titel/Untertitel:

Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. XXI, 1018 S. gr.8. ISBN 3-11-015079-4.

Rezensent:

Fausto Parente

Dieser Band, in dem es um die letzten fünfzehn Lebensjahre von Theodor Mommsen geht, ist deshalb von großer Bedeutung, weil diese Zeit in L. Wickerts Biographie nur kursorisch behandelt wird. Dem Titel "Mommsen und Harnack" entsprechend befaßt sich der Vf. ganz systematisch mit den Beziehungen zwischen den beiden Gelehrten, denn in den Jahren zwischen 1888 (Harnacks Berufung an die Berliner theologische Fakultät) und 1903 (Mommsens Tod) war Harnack Mommsens wichtigster Gesprächspartner, fast ein Vertrauter und Freund, und das in einer Zeit, als die Berliner Kollegen zunehmend von dem alten ,maestro’ Abstand nahmen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1981 (in CW 74, 1980-81, 241-251) unterstrich William Calder III die Bedeutung von Gelehrtenbriefen als historische Quelle. Sie erhellen nicht nur einzelne Episoden der Universitätspolitik, sondern tragen auch zum Verständnis der persönlichen Beziehungen der Korrespondenten bei, die ein Biograph nicht außer acht lassen sollte, und die aus anderen Quellen oft schwer ersichtlich sind.

Dieses Buch trägt Calders Einsicht Rechnung. Der Briefwechsel Mommsen-Harnack, den der Vf. eingehend und ungewöhnlich kenntnisreich kommentiert, ist heute die Hauptquelle sowohl für die Darstellung von Mommsens politischer und kultureller Tätigkeit zwischen 1888 und 1903 als auch für das Verständnis der Psychologie und der privaten Sphäre des großen Historikers in diesen Jahren. Trotz des großen Altersunterschieds - Harnacks Vater, Theodosius, war wie Mommsen im Jahre 1817 geboren - verband die beiden Gelehrten eine echte Freundschaft. Manchmal spricht Mommsen in den Briefen von seiner Vergangenheit: er erzählt z. B. wie er 1848, als Lehrer an einer Mädchenschule in Altona und Redakteur der "Schleswig-Holstein Zeitung", seine erste große epigraphische Arbeit fertigstellte, die Sammlung der Inscriptiones Regni Neapolitani (Brief Nr. 138 vom 21. Februar 1899). Der Vf. weist darauf hin, daß Mommsen, im allgemeinen zurückhaltend mit Äußerungen über sich selbst und sein Leben, Harnack gegenüber erstaunlich offen ist. In seinen Briefen benutzt er schon bald die Anrede "Lieber Freund", während Harnack dem älteren Kollegen gegenüber bis zuletzt bei dem höflichen "Hochverehrter Herr Professor" bleibt. Der Briefwechsel gibt außerdem einen besseren Einblick in die verwickelten Vorgänge des ,Falles Spahn’, über den Ch. Weber in einer 1980 in Rom erschienenen Arbeit gehandelt hat. Der Vf. hat nämlich auch die Briefe veröffentlicht, die Lujo Brentano in diesem Zusammenhang an Mommsen geschrieben hat (Nr. 185, 187, 189, 190, 194, 196, 197, 201, 204, 206, 215, 227, 228, 236, 248, 250, 254, 259, 263), während bis jetzt nur die Briefe Mommsens an Brentano in K. Rossmanns Ausgabe von 1949 zugänglich waren. Am 17. Oktober 1901 hatte das Unterichtsministerium auf Wunsch des allgewaltigen Ministerialdirektors Friedrich Althoff ohne jegliche Rücksprache mit der Fakultät den siebenundzwanzigjährigen katholischen Historiker Martin Spahn zum ordentlichen Professor für Geschichte der Neuzeit an der philosophischen Fakultät der Universität Straßburg ernannt, eine Maßnahme, die in deutschen Universitätskreisen zu erheblichen Spannungen führte. Der Vf. erzählt und rekonstruiert mit bewundernswerter Ausführlichkeit diese Affäre, die für Mommsen schließlich zu einer bitteren Niederlage wurde, da seine Berliner Kollegen, statt dem Dekan der deutschen Geisteswissenschaften zu folgen, sich lieber hinter die Ministerialbürokratie stellten.

Unbekanntes Material findet sich besonders in den Kapiteln, die der Geschichte der Kirchenväterkommission gewidmet sind, über die bisher kaum etwas veröffentlicht worden ist (W. Eltester, in ThLZ 93, 1968, 11-20). Sie beginnt im Jahre 1891, ein Jahr nach Harnacks Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften, mit der Bildung (innerhalb der Kommission für spätantike Religionsgeschichte) eines Komitees zur Veröffentlichung eines Corpus patrum Graecorum Antenicaenorum als Parallelunternehmen zu dem von der Wiener Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum. Das war das erste theologische Projekt der Preussischen Akademie. Harnack wählte sich seine Mitarbeiter im wesentlichen unter seinen Schülern aus, zog aber gleichzeitig Gelehrte heran, die über einschlägige Kenntnisse in den Sprachen verfügten, in denen sich patristische Texte erhalten haben, deren griechisches Original verloren ist: A. Dillmann, G. N. Bonwetsch, den Koptologen C. Schmidt. Nach ein paar Jahren machte sich die Kirchenväterkommission Mommsens Projekt einer Fortsetzung der Prosopographia Imperii Romani saeculi I-II-III von E. Klebs, H. Dessau und P. von Rohden (die im wesentlichen aus den indices des CIL hervorgegangen war) bis ins 6. Jh. zu eigen, das auf die Kirchengeschichte ausgedehnt werden sollte und der Akademie im März 1901 vorgeschlagen wurde. Da dieses Unternehmen scheiterte, vermittelt die Rekonstruktion dieser verwickelten Ereignisse den Lesern Einblick in eine sonst fast unbekannte Geschichte (aber siehe auch: F. Winkelmann, Prosopographia Imperii Romani saec. IV-V-VI, in: J. Irmscher, A. Harnack und der Fortschritt in der Altertumswissenschaft, SB der AdW der DDR 10G/1980, Berlin 1981, 29-34).

Harnack war kein Philologe, zumindest nicht in dem Sinne, den Wilamowitz diesem Wort gegeben hat, und hatte wenig Erfahrung mit kritischen Editionen: Die Ausgabe der apostolischen Väter aus den siebziger Jahren war in Zusammenarbeit mit O. von Gebhardt entstanden. Als Harnack nun 1899 die Ausgabe seines Schülers P. Koetschau von Origines’ contra Celsum veröffentlichte, schrieb Paul Wendland in den GGA einen Verriß, und sowohl Diels als auch Wilamowitz verschärften danach die Kritik. Ziel dieses Angriffs war weniger Koetschau als Harnack, der laut Wilamowitz keine Ahnung davon hatte, was eine kritische Edition sei. Im folgenden Jahr wurde Wilamowitz Mitglied der Kommission, und man gewinnt den Eindruck, daß, während die Leitung des Unternehmens Harnack langsam entglitt, Wilamowitz eine immer entscheidendere Rolle spielte. Diesem Wechsel in der Leitung des Unternehmens hätte der Vf. größere Aufmerksamkeit widmen sollen. Mit größter Ausführlichkeit geht er auf die Ausgabe von Rufins lateinischer Übersetzung der Historia eccl. des Eusebius ein, die Mommsen selbst übernommen hatte, und die ihm den Spott von Wilamowitz eintrug; er behandelt auch die Ausgabe des lateinischen Textes von Hieronymus’ Übersetzung des Chronicon durch R. Helm und die der armenischen Übersetzung durch J. Karst, aber fast übergeht er das Meisterwerk dieser Reihe, die Ausgabe des griechischen Textes der Historia eccl. durch Eduard Schwartz.

Aufgrund eines Briefes von Harnack an Mommsen vom 22. 10. 1890 (Nr. 12) kann der Vf. eine Bemerkung von Eduard Schwartz (Wissensch. Lebenslauf, in Ges. Schriften II, 6) korrigieren, die auch von mir akzeptiert worden war, daß nämlich Harnack den Plan der Ausgabe der Historia eccl. abgelehnt habe, den Schwartz vorgelegt hatte, als er noch in Rostock war, und daß dieser Plan erst nach Wilamowitz’ Eintritt in die Kommission angenommen worden sei: "die Situation änderte sich, als Wilamowitz in die Kirchenväterkommission eintrat". Diese Bemerkung ist ohne Zweifel falsch, aber nach Wilamowitz’ Eintritt änderte sich die Situation tatsächlich, da nun Wendland die Herausgabe des dritten Bandes des Hippolytos übernahm.

Mommsens und Harnacks Interessen trafen vor allem auf dem Bereich der Kulturpolitik zusammen und in der Institution, in der sie gemeinsam gearbeitet haben, der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Allerdings gab es grundlegende Unterschiede in den intellektuellen Voraussetzungen, auf denen ihre historischen Forschungen beruhten; man könnte sich also darüber wundern, warum diese lange und fruchtbare Zusammenarbeit trotzdem Bestand hatte. Was Mommsen angeht, so ist sich der Leser schon über die geistigen Voraussetzungen seiner historischen Arbeit im klaren. Dasselbe gilt nicht für Harnack. In seiner Protestschrift gegen Althoff im ,Fall Spahn’ hatte Mommsen geschrieben: "Unser Lebensnerv ist die voraussetzungslose Forschung, die nicht das findet, was sie nach Zweckerwartungen und Rücksichtnahmen finden soll und finden möchte". Einige Jahre zuvor hatte Eduard Meyer Theologen gegenüber dasselbe Konzept mit folgenden Worten ausgedrückt: "Der Historiker hat zunächst feste Thatsachen zu suchen, ganz unbekümmert um jede Theorie, die er sonst irgendwie von den Begebenheiten gewonnen haben muß". Diese Feststellung hätte Harnack bestimmt nicht unterschrieben. Von seinem Lehrer Albrecht Ritschl hatte er zwar die Absage an alle dogmatischen Zwänge und die totale Verinnerlichung der Erfahrung der Offenbarung übernommen. Aber er hatte gleichzeitig auch die Verabsolutierung des Christentums geerbt, das nicht eine, sondern die Religion sei.

Der Vf. ist nur wenig auf den Theologen Harnack eingegangen, obwohl eine Untersuchung gerade dieser Seite seiner Persönlichkeit vermutlich einige Aspekte seiner Universitätspolitik verständlicher gemacht hätte. Übereinstimmend mit seiner Überzeugung, daß das Christentum nicht als eine Religion unter vielen angesehen werden könne, hatte sich Harnack immer gegen die Einführung des Faches ,Religionsgeschichte’ an der theologischen Fakultät gewehrt und hatte die sogenannte "Religionsgeschichtliche Schule" leidenschaftlich bekämpft. Er hatte z. B., um nur einen der bekannteren Fälle zu nennen, Hermann Useners Schrift Das Weihnachtsfest, in der untersucht wird, wie sich das Christentum seit dem 4. Jh. zunehmend heidnische religiöse Bräuche zu eigen machte, scharf kritisiert. Die "Absolutheit" des Christentums schloß für ihn a priori die Möglichkeit von synkretistischen Verschmelzungen aus, und diese grundsätzliche "Voraussetzung" für Harnacks historische Forschungen kann man nicht übersehen. Mommsen hatte dagegen keinerlei persönliche religiöse Erfahrungen und, und wie sein gesamtes Werk zeigt, kein Interesse an der Religion als historische Tatsache. Anscheinend merkte er gar nicht, wie sehr die Forschungen Harnacks dem widersprachen, was er für die unabdingbaren Prinzipien der historischen Forschung hielt; deshalb konnte er gut mit ihm zusammenarbeiten, wenn es um Fragen antiquarischer Gelehrsamkeit ging.

Es ist ganz unmöglich, eine summarische Zusammenfassung dieses Buches zu geben. Auf jeden Fall ist es ein unschätzbarer Beitrag zum Verständnis der Persönlichkeit Mommsens, als Kulturpolitiker, und als Politiker tout court, denn das blieb er auch in den letzten Jahren, als er nicht mehr Reichstagsabgeordneter war. Schließlich seien noch zwei Episoden herausgegriffen, die der Vf. exemplarisch behandelt: die Polemik mit Treitschke über dessen antisemitischen Artikel, der 1879 in "Preussische Jahrbücher" veröffentlicht wurde, und den letzten, verzweifelten Appell des alten Liberalen, für den der englische Parlamentarismus die Idealform einer politischen Verfassung war, an die englischen Kollegen: Ein Deutscher an die Engländer, erschienen am 1.Oktober 1903 in "Independent Review", nachdem der Burenkrieg die englisch-deutschen Beziehungen vergiftet hatte. Als Gesamturteil über Rebenichs Werk möchte ich ein Wort von Calder III wiederholen, mit dem er mir das Erscheinen des Buches ankündigte, und dem ich uneingeschränkt zustimme: Es handelt sich um ein "scholarly masterpiece".