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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

1014–1016

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Ingelfinger, Ralph

Titel/Untertitel:

Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots. Das Menschenleben als Schutzobjekt des Strafrechts.

Verlag:

Köln-Berlin-München: Heymanns 2004. XXII, 376 S. gr.8. Lw. Euro 120,00. ISBN 3-452-25568-9.

Rezensent:

Christoph Goos

Eberhard Jüngel hat vor einigen Jahren auf die Bedeutung der juristischen Argumentation bei der Entwicklung einer Phänomenologie des sterbenden Lebens hingewiesen. Allem Anschein zum Trotz sei die Distinktionskunst der Juristen nämlich überaus lebensnah. Ingelfingers strafrechtliche Habilitationsschrift bestätigt die Einschätzung des Theologen eindrucksvoll. I. widmet sich zunächst den Grundlagen des Tötungsverbots. Dem strafrechtlichen System des Lebensschutzes liege kein striktes Heiligkeitsprinzip zu Grunde, sondern der Grundsatz des positiven Werts jedes Menschenlebens. Für die Rechtsordnung, die die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht beantworten könne und dürfe, sei jedes Menschenleben immer und ausnahmslos ein Gut und als solches stets etwas Positives. Diese Idee habe in Art. 1 GG Ausdruck gefunden. Die Menschenwürdegarantie statuiere "die unwiderlegbare Vermutung, dass jeder menschlichen Existenz Sinn zukommt" (83). Ein Menschenleben dürfe deshalb niemals auf der Grundlage ausgelöscht werden, es sei etwas Negatives und daher nicht mehr wert, fortgesetzt zu werden.

Der zweite Teil der Arbeit ist den Grenzbereichen des Tötungsverbots gewidmet. Zunächst geht es um den Beginn des Menschseins im Strafrecht und die kaum befriedigend zu beantwortende Frage, mit welcher Berechtigung das äußere Ereignis der Geburt als Grenzstein zwischen zwei fundamental unterschiedlichen strafrechtlichen Normensystemen mit ganz unterschiedlicher Schutzdichte fungiert. Sodann wendet sich I. dem Ende des Menschseins im Strafrecht zu, das seiner Ansicht nach mit dem vollständigen Ausfall des Gehirns gleichzusetzen ist, weil der Körper des Menschen dann nicht mehr in der Lage sei, sich selbstständig zu integrieren. Im dritten Kapitel setzt sich I. mit der Frage auseinander, warum auch derjenige, der mit ernstlichem Willen des Opfers tötet, Unrecht begeht ( 216 StGB), während der Suizidteilnehmer ungestraft davonkommt. I. legt überzeugend dar, dass das Verbot der Tötung auf Verlangen das Leben des Todeswilligen jenseits eines zulässigen Paternalismus nicht mehr um seiner selbst willen, sondern um der anderen Menschenleben willen schützt: "Liegt der Vorschrift die Maxime zugrunde, dass das Menschenleben immer als positiver Wert anzusehen ist, dann dient sie dazu, diese Bewertung des Lebens in der Gemeinschaft zu sichern, um letztlich all jene Menschen zu schützen, die in hohem Maße an Lebensqualität eingebüßt haben und deshalb potenziell gefährdet sind, aus dem Schutzbereich der Tötungstatbestände hinausdefiniert zu werden" (217).

Im vierten und letzten Kapitel befasst sich I. mit den anerkannten Formen der Sterbehilfe. Er weist nach, dass die Grenze zwischen Verbotenem und Erlaubtem im geltenden Sterberecht nicht zwischen "aktiven" und "passiven" Verhaltensweisen, sondern zwischen mittelbaren und unmittelbaren Entscheidungen für den Tod verläuft. Die etablierten Formen der indirekten Sterbehilfe vermieden die Wertung, der Tod könne für den betroffenen Menschen besser sein als sein weiteres Leben. Sie beruhten auf der Überlegung, dass eine kürzere, von medizinischen Eingriffen freie Endphase des Lebens besser sein könne als eine längere, von der Anwendung technischer Mittel und der Zufügung weiterer Qualen gekennzeichnete. Weil es hier im Kern um die Verhinderung einer selbstbestimmungswidrigen Behandlung und den Erhalt eines Guts, nämlich einer eingriffsfreien Sterbephase gehe, lasse sich am treffendsten von "defensiver" Sterbehilfe sprechen. Das Willensprinzip gerate indes an seine Grenze, wo sich keinerlei Indizien für einen Willen des aktuell entscheidungsunfähigen Patienten pro oder contra Weiterbehandlung finden ließen. Hier bleibe nur die Möglichkeit, eine am Wohl des Patienten orientierte Entscheidung zu treffen, wobei es nicht grundsätzlich ausgeschlossen sei, einer eingriffsfreien Phase am Lebensende den Vorrang einzuräumen. Der Grundsatz "in dubio pro vita" könne allenfalls in den Fällen gelten, in denen die Weiterbehandlung - wie etwa bei irreversibel bewusstlosen Patienten - kein zusätzliches Leid schaffe.

In seiner Schlussbetrachtung spricht sich I. gegen eine begrenzte Zulassung der Tötung auf Verlangen nach holländischem oder belgischem Vorbild aus. Selbst in Extremfällen, in denen eine Linderung von Leid und Schmerz nicht möglich und auch der Weg über eine Selbsttötung nicht gangbar sei, solle die Rechtsordnung die Tötung eines Menschen nicht als gute Tat bewerten, weil sie ein bloßes Übel beende. Wegen der bestechenden Klarheit, mit der I. die Grundlagen des strafrechtlichen Tötungsverbots herausarbeitet, und der Stringenz seiner Argumentation dürfte seine Studie auch für Nichtjuristen, die um die Lösung der schwierigen Probleme an den Grenzen der menschlichen Existenz ringen, von allergrößtem Interesse sein.