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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

1013 f

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Gullo, Peter

Titel/Untertitel:

Religions- und Ethikunterricht im Kulturstaat.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2003. 328 S. gr.8 = Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, 39. Kart. Euro 72,00. ISBN 3-428-10910-4.

Rezensent:

Alfred Seiferlein

Die Diskussion zum Verhältnis von Ethik- und Religionsunterricht ist seit dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes auf verschiedenen Ebenen intensiv geführt worden. Während die bildungspolitischen und die pädagogischen, auch die religionspädagogischen Fragestellungen sich eines relativ großen Zuspruchs erfreuten, ist die juristische Debatte dahinter zurückgeblieben. Die juristische Wissenschaft befasste sich mit dem Verhältnis der konfessionellen Fächer und dem Komplementärunterrichtsfach (der Vf.) vornehmlich im Rahmen staatskirchenrechtlicher Probleme; während auf der Ebene der Gerichtsbarkeit vor allem die Problematik der Teilnahmeverpflichtung sowohl am Religions- als auch am Ethikunterricht zu relativ vielen Urteilen und damit verbunden zu Urteilsbegründungen mit grundsätzlichen Ausführungen führten.

Die vom Vf. bei Bundesverfassungsrichter Udo Steiner in seiner Eigenschaft als Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg geschriebene Dissertation nimmt sich dieses Desiderats an. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die These, dass grundsätzlich zwischen Rechts- und Kulturstaat unterschieden werden kann. Der Vf. weist mit vielen Argumenten und Beispielen nach, dass die Staatlichkeit in unserem Land sich durch eine gemeinsam geprägte Kultur konstituiert, zu der für den Vf. neben der Sprache, Kunst, Philosophie und Wissenschaft wesentlich auch die Religion gehört.

Der Kulturstaat in Unterscheidung zum Rechtsstaat als Gegenstand einer juristischen Expertise ist an sich schon ein bemerkenswertes Phänomen! Dass aus der Kulturstaatlichkeit rechtliche Determinanten abgeleitet werden, verdient ein besonderes Augenmerk. Als Leser vermisst man zunächst die Aufnahme und Diskussion anderer einschlägiger Wissenschaften, die sich mit dem Verhältnis des Religions- zum Ethikunterricht befassen. Die vom Vf. gewählte "innerjuristische" Argumentation besitzt aber den Vorteil einer Konzentration auf die Grundlagen der rechtsstaatlichen Fragestellungen. Die beiden großen Teile der Untersuchung, nämlich die verfassungsrechtlichen Grundlagen staatlicher Werteweitergabe und die Problematik zur Teilnahmeverpflichtung am Ethikunterricht, versuchen nachzuweisen, dass positive Setzungen von staatlicher Seite im Bereich der Bildung unverzichtbar sind, weil "mit den Kräften der Verneinung alleine ... sich kein Staat machen" lässt (22). Der Religionsunterricht besitze dabei das Privileg, an überlieferte kulturelle Gegebenheiten anknüpfen zu können, während der Ethikunterricht sich erst seine eigenen Inhalte setzen müsse. Der Ethikunterricht stelle deshalb nur die zweitbeste Lösung für die ethisch-religiöse Bildung dar.

So überzeugend sich die juristischen Beweisführungen in der Untersuchung darstellen und so vielfältig die aufgeführten Begründungen eine stringente Entwicklung aufzeigen, allein die Wirklichkeit in den Schulen unseres Landes spricht eine gravierend andere Sprache. Die prägende Kraft des Christentums und christlicher Wertvorstellungen ist längst nicht nur in den neuen Bundesländern nicht mehr evident, selbst in süddeutschen Gebieten sind traditionelle kirchliche Prägungen bei einer Mehrheit von Eltern und Schülern nicht mehr vorauszusetzen, selbst dort, wo sich die Kirchenmitgliedschaft prozentual noch auf einem hohen Niveau bewegt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Vf. fast durchgängig von Kirche nur im Singular spricht- und damit offensichtlich auch nur eine bestimmte Ausprägung der christlichen Tradition in unserem Land vor Augen hat, während doch schon das Grundgesetz im einschlägigen Art. 7 Abs. 3 von den "Religionsgemeinschaften" spricht.

Nach Lage der Dinge lässt sich die ethisch-religiöse Bildung in den öffentlichen Schulen nur unter der Bedingung politisch rechtfertigen und pädagogisch weiterentwickeln, dass Religions- und Ethikunterricht in einem partnerschaftlichen Verhältnis die Schülerinnen und Schüler in die wichtigsten Bezüge der Geistesgeschichte der Menschheit einführen. Die konfessionellen Fächer verfügen gegenüber dem Ethikunterricht anerkannterweise über zusätzliche Möglichkeiten, etwa die Einübung in Glaubensvollzüge zum besseren Kennenlernen und Verstehen der jeweiligen Konfession, die dem Ethikunterricht verwehrt sind. Gleichwohl ist der Ethikunterricht nicht defizitär, sondern er gewinnt zunehmend sein eigenes Profil; und durch neue universitäre Ausbildungsgänge für die Unterrichtenden auch verstärkt an vergleichbarer pädagogischer Qualität.

Der Ethikunterricht ist zwar rechtlich in mehreren Bundesländern noch "Ersatzfach" für den konfessionellen Religionsunterricht, aus politischer und pädagogischer Sicht aber führt die Bezeichnung des Ethikunterrichts als "Komplementärfach" angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit weiter. In diesem Begriff wird das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein der beteiligten Fächer ausgedrückt. "Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach", heißt es in Art. 7 Abs. 3 GG. Die Entsprechung zu einem ordentlichen Lehrfach kann nur ein adäquates Angebot im Ethikunterricht sein. Letztlich weist die vorliegende Untersuchung auf diesen Weg. Auch wer sich die Erwägungen des Vf.s nicht so konservativ gewünscht hätte, kann die Stringenz der grundlegenden Argumentation nicht negieren.