Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2005

Spalte:

1010–1013

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Friedrich, u. Thomas Schlag [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionspädagogik im 21. Jahrhundert.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus; Freiburg: Herder 2004. 324 S. m. Abb. 8 = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 4. Kart. Euro 39,95. ISBN 3-579-05293-4 (Kaiser/Gütersloher Verlagshaus); 0-451-28405-7 (Herder).

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Die vier Teile des Buches thematisieren die Vernunftfähigkeit (I), den Kirchenbezug (II), das Verhältnis zur religiösen Pluralität (III), Wissenschaftstheorie (IV) und "Offene Fragen" (V).

D. Zillessen zeigt auf, wie sich die erkenntniskritische Einsicht in die Entzogenheit der Gegenstände und die plurale Situation der gegenwärtigen Gesellschaft auch auf die Didaktik auswirken, warnt aber davor, "von vornherein die Wahrheitsansprüche der eigenen Position aufzugeben oder zu beschränken" (34). Nicht interreligiöse Ausgleichsversuche stiften heute mögliche Gemeinschaft, sondern die "Anerkennung gemeinsamer Fremdheit" (Derrida). F. Schweitzer sieht eine wichtige Aufgabe der Religionspädagogik darin, auf "die gesellschaftlichen und religiösen Differenzierungsprozesse" der Neuzeit zu antworten und durch besondere Aufmerksamkeit für "evangelische Bildungsverantwortung" den Öffentlichkeitsanspruch des Christentums auf einem durch "Spezialisierung", "Verwissenschaftlichung" und "Professionalisierung" erreichten Niveau zu vertreten. Als Kirchenvertreter erwartet J. Frank von der Religionspädagogik, "dass sie treu ist - und nicht kirchenabstinent" (71), Lernenden auf jeweils eigenen Wegen zum Glauben hilft (74) und im öffentlichen Raum die "Relevanz christlichen Redens und Tuns" erweist. Deutlich plädiert auch K. E. Nipkow einerseits für einen weiten Religionsbegriff, andererseits für "Kirchenbindung" (56). "Religiöse Bildung umfasst beides, religiöses Gefühl und religiöses Urteil, Sein für und Begriff von. ... Es geht um Bildung durch eintauchendes und distanzierendes Lernen" (97). Wie weit Religionspädagogik über den Horizont des Religionsunterrichts, ja der Schule, ja absichtsvoller Erziehung überhaupt hinausgeht, hebt R. Englert hervor. Doch darf der Religionsunterricht nicht diffundieren, sondern es ist gerade auch von "allgemeiner Bildungsbedeutsamkeit" (87), dass er sich auf sein Proprium konzentriert und wie jedes andere Fach "Grundbegriffe der systemspezifischen Semantik" (Gott, Gnade, Schöpfung, Erlösung usw.) thematisiert, um die "Gottesfrage" kreist, den kritischen Umgang mit unterschiedlichen religiösen Äußerungen lehrt und so Kindern und Jugendlichen hilft, "zu ihrem eigenen Glauben zu finden" (93). U. Schwab reklamiert den Bildungsbegriff auch für die Jugendarbeit, die sich an Jugendlichen als "Subjekten ihrer Praxis" orientiert und im Namen des Evangeliums auf ihre Würde und Freiheit zielt.

Den zweiten Teil des Bandes eröffnet B. Schröder mit einem Plädoyer für den Kirchenbezug. Religionspädagogik hat als christliche dem Umstand Rechnung zu tragen, "dass die Taufe als fortgesetzte Einladung zur Teilhabe am Gottesdienst und an der Kirche als Schule des Christentums zu verstehen ist" (114). "Die Gemeinschaft des Glaubens steht" nach N. Mette "der Individualität des Gläubigen nicht im Wege, sondern lässt sie zum Zuge kommen" (129). Gegen die Reduktion des Religionsunterrichts auf religionskundliches oder auf ethisches Orientierungswissen wendet sich P. Bubmann und bestimmt ihn als eine "Einführung" in "christliche Lebenskunst", die "nicht ohne die Gemeinschaft der vom Geist der Freiheit Ergriffenen zu denken" ist. Für Th. Knauth steht außer Frage, dass ein inhaltlich relevanter Religionsunterricht, der Religion in ihrer existenzerschließenden und orientierungsstiftenden Bildungsbedeutung in der Schule zum Tragen bringt, auf die reflektierte Bindung an und den institutionellen Rückhalt von Kirche angewiesen ist (144). Deren Bedeutung sieht er dann allerdings nur als "Bürgin von Tradition", "Anwältin versehrbaren Lebens" und "unbequeme Zwischenrednerin, die die vernachlässigten Themen in den öffentlichen Diskurs bringt" (145).

Der dritte Teil beginnt mit einem Beitrag von W. Tscheetzsch. "Das Wachhalten oder gar das Wecken der religiösen Frage" macht er "zu einer gemeinsamen Aufgabe aller großen Religionen" (156), ohne deren unterschiedliche Antworten vermischen zu wollen. Nach F. Rickers antworten alle Religionen allerdings unterschiedlich auf die "Frage nach letzter Verbindlichkeit und Sinnsetzung" (164). Er will das individualistische hermeneutische Modell von R. Bultmann durch die das Politische einbeziehende Hermeneutik von D. Sölle ergänzen. Mit R. A. Mall geht er davon aus, dass alle Religionen "Ausfaltungen" der einen "religio perennis" seien. Diese Vorstellung mache tolerant und kommunikationsbereit. H. Köhler-Spiegel will die Religionspädagogik auf eine "Dialogtheologie" gründen, die von einer "äquivalenten Gleichordnung der Kulturen und Religionen" ausgeht und versucht, "das Christentum ohne Absolutheitsanspruch in den Dialog der Religionen einzubinden" (177). Erfahrungen aus der interkonfessionellen Kooperation für die Religionspädagogik fruchtbar zu machen, ist das Anliegen von A. Edelbrock.

Den vierten, wissenschaftstheoretischen Teil eröffnet S. Leimgruber mit der Bestimmung von Religionspädagogik als "Verbunddisziplin" oder auch "Verbundwissenschaft", die sich "mit der Theorie und Praxis religiöser Lern- und Bildungsprozesse, die entlang der ganzen Biographie stattfinden und in diversen Institutionen mitverankert sind" (203), beschäftigt und nicht nur hermeneutisch, empirisch, analytisch und ideologiekritisch verfährt, sondern auch die Berufspraxis im Blick hat. H. G. Ziebertz warnt vor einer irrationalen Angst vor sozialempirischen Methoden, plädiert für deren verstärkte Übernahme in die Praktische Theologie und stellt den "Zyklus eines empirischen Forschungsvorhabens" dar. Unterschiedliche Ausprägungen von Religionspädagogik je nach "Kontur" betrachtet B. Beuscher. "Partner Nummer eins für eine zeitgemäße Religionspädagogik" ist nach J. Kunstmann die "moderne philosophische Ästhetik" (246). Religionspädagogisch geht es darum, "die Gestalt einer Religion über entsprechende Arrangements in religiöse Erfahrung und lebbare religiöse Praxis zu überführen". Th. Schlag verweist auf die Bedeutung der Person des Pädagogen, seiner "individuellen Professionalität und Authentizität" (265), für ethisch-theologische Bildung. Als Voraussetzung für die Auswahl von Inhalten "Globalen Lernens" sieht K. Seitz eine "Theorie der Weltgesellschaft" an. Für K. Wegenast "bleibt die Frage, welchen Beitrag die vielfältigen Bemühungen der Religionspädagogik für das Kind-, Jugendlicher- und Menschsein überhaupt unter den Bedingungen unserer gegenwarts- und erlebnisfixierten Kultur zu leisten vermögen" (288). Die Antwort findet er in der "Stärke unserer Tradition", d. h. der Botschaft von der Rechtfertigung. A. Roggenkamp-Kaufmann hält es für möglich, dass eine von der religionsunterrichtlichen Basis her denkende Religionsdidaktik zukunftsfähiger ist als eine solche, die sich von "Großtheorien" herleitet. Gegen die Verflüchtigung des normativen Gegenübers im Zeichen der Subjektorientierung wendet sich S. Weyer-Menkhoff. F. Lott scheint ein "Pädagogischer Paradigmenwechsel: Von der Erzeugungs- zur Ermöglichungsdidaktik" angezeigt. Von einer praxisförderlichen Religionspädagogik erwartet Chr. Th. Scheilke, dass sie Lehrende zur selbstkritischen Beobachtung ihres Handelns und Lernende zum Wahrnehmen und Bedenken ethisch-religiös bedeutsamer Beziehungen mit ihrer Umwelt befähigt.

G. Lämmermann sieht im Kopftuchstreit ein Indiz dafür, dass durch den Vorrang der negativen vor der positiven Religionsfreiheit "die Grenzen auch für die öffentliche Manifestation christlicher Glaubensüberzeugungen und für die Präsentation christlicher Symbole enger" (316) werden und sich der konfessionelle Religionsunterricht auf die Dauer nicht halten lässt. Er rät, sich für einen Ethikunterricht zu öffnen, der an "die genuin christlichen Grundlagen unserer Freiheitskultur und unserer Wertorientierungen" erinnert und so "eine verantwortbare Lebensgestaltung" (318) fördert. Nach A. A. Bucher muss sich religionspädagogischer Diskurs verständlich artikulieren, "sein Proprium vertreten und gleichsam eine Marktlücke ausfüllen".

Der Band macht nicht nur das hohe Niveau deutlich, das religionspädagogische Theoriebildung um die Jahrtausendwende erreicht hat, sondern auch die innerfachlichen Konvergenzen und Divergenzen. Tendenziell besteht bei allen Kontribuenten Einigkeit darüber, dass wir in einer pluralen Situation leben und die Subjektivität der Lernenden mit ihrem Anspruch, in Richtung auf Mündigkeit gefördert zu werden, gerade auch für christliche Bildungsbemühungen zu gelten hat. Dabei droht die vorgegebene, in Dogmen und Bekenntnissen ausgedrückte kirchliche Lehre, welche den Lernenden zwar nicht aufzudrängen ist, an der sie sich aber zur Ermöglichung einer eigenen Stellungnahme abzuarbeiten haben, vielfach zu sehr zurückzutreten (241, Kunstmann). Äußerungen scheinen oft unterschwellig durch die Angst vor Indoktrinationsverdacht und Delegitimierung bestimmt. Müsste die kirchliche Lehre nicht deutlicher, wenn schon nicht der "Aneignung", dann doch dem "Verstehen" verpflichtend vorgegeben sein (Weyer-Menkhoff)? Entsprechend verhalten kommt in verklausulierenden Umschreibungen die Hoffnung zum Ausdruck, durch die Beschäftigung mit christlichen Inhalten solle Glaube geweckt und gestärkt werden. Verschiedentlich geraten durch die Dominanz eines allgemeinen Religionsbegriffs theologische Überlegungen auf eine profanpädagogisch-religionstheoretisch bestimmte Ebene. Im Verein mit einem - ebenso wenig theologisch begründeten - Dialogbegriff kann er bis zum religiösen Relativismus als oberster Norm führen (Rickers; Köhler-Spiegel).