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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

1004–1006

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hahn, Matthias

Titel/Untertitel:

Wende und Wandlung. Bildungsgeschichten ostdeutscher ReligionslehrerInnen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche.

Verlag:

Münster: LIT 2003. 293 S. 8 = Religionspädagogische Kontexte und Konzepte, 12. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-8258-7052-9.

Rezensent:

Andrea Schulte

Der Titel, den Matthias Hahn, Direktor des Pädagogisch-Theologischen Instituts (PTI) der Föderation der Evangelischen Kirchen Mitteldeutschlands, seiner Untersuchung gegeben hat, ist programmatisch: Wende und Wandlung in ihren didaktischen Grundorientierungen und ihrem Selbstverständnis haben sieben von ihm interviewte ehemalige DDR-Lehrkräfte erfahren, die ihre Berufstätigkeit vor 1989 aufgenommen haben und nun evangelischen Religionsunterricht in Sachsen-Anhalt erteilen. Alle haben an unterschiedlichen Weiterbildungsmaßnahmen für den Evangelischen Religionsunterricht des PTI teilgenommen. H. stellt deren Berufslebensläufe in der Situation nach der Wende 1989 bis zum Ende des Jahres 2000 vor und wertet sie aus.

Mit der Studie wird zum einen ein "Beitrag zur Erhellung der realen Situation von Religionslehrerinnen und Religionslehrern" (11) geleistet, zum anderen ein Forschungsprozess "mit den Betroffenen über die Situation des Religionsunterrichts in Ostdeutschland" (11) dokumentiert. Darüber hinaus wünscht sich H.: "Wenn durch die authentischen Darstellungen der religions- und schulpädagogische Ost-West-Dialog bereichert werden würde, wäre eine weitere wichtige Zielsetzung erreicht." (11)

Für die Analyse der Rolle und des Berufsverständnisses der Lehrerschaft erweist sich die Frage, "wie die Lehrerinnen und Lehrer sich selbst, ihre berufliche Sozialisation und ihre Rolle unter den Bedingungen der DDR-Bildungsdiktatur erlebt haben"(15), als prominent (15-20). Nach der Darstellung der wichtigsten rechtlichen, politischen, kirchlichen, schulischen und fachlichen Rahmenbedingungen für den Evangelischen Religionsunterricht in Sachsen-Anhalt (21-39) skizziert H. die gesellschaftlichen und schulischen Rahmenbedingungen der Situation von Lehrkräften in der DDR und nach 1989. Er gewinnt daran offene Fragen, die Gegenstand der Interviews werden (41-59). Die mit der Deutung biographischer Erfahrungen verbundenen Chancen und Probleme fasst H. in methodologischen Problemanzeigen zusammen (61-83).

H. wendet die forschungsmethodischen Schritte Interview, Transkript, Zusammenfassung des Transkripts, berufsbiographische und religionspädagogische Deutung als doppelte Interpretation und schriftliche Validierung an. In Anlehnung an Peter Biehl, für den erzählte und/oder berichtete Lebensgeschichten die Untersuchungsgrundlage biographischer Forschung darstellen, deutet H. die ihm erzählten Berufslebensgeschichten als individuelle Bildungsgeschichten, "als einen Prozess der mündigen, verantwortlichen Subjektwerdung des Menschen" (73), deren Strukturen detailliert und pointiert herausgearbeitet werden (89-209).

H. fokussiert die Interviews auf sieben Gesprächsfelder: Beschreibung der heutigen Situation als Lehrkraft, Vergleich mit der Situation vor 1989, Etappen der jeweiligen beruflichen Entwicklung, Lehrerrolle und Privatleben, Lehrerweiterbildung, Religionsunterricht und Selbsteinschätzung sowie Religionsunterricht in der Schule. In einer vergleichenden Auswertung (211- 227) unternimmt er dann den Versuch, "Regelmäßigkeiten auf die Spur zu kommen, die von mehreren der interviewten Lehrerinnen und Lehrer angesprochen werden. Das Ziel dieses Vorgehens ist es, Vergleichbares zu identifizieren und Ausnahmen zu erkennen" (211). Ein mit den Beteiligten und zwei externen Gesprächspartnern geführtes zweistündiges Validierungsgespräch initiiert eine interne Verständigung über die den Interviewten zuvor vorgelegten Einzelinterpretationen H.s. Im Horizont dieser kommunikativen Validierung (229-266) zeigt sich der Forschungsprozess als ein Lehr-Lern-Prozess, "zum einen wird nach Äußerungen der Zustimmung resp. Ablehnung durch die Interviewten gefragt, zum anderen wird der Lernprozess für den Monopol-Interpreten der Interviews aufgezeigt" (265).

Das Gespräch mit drei vergleichbaren Studien, die über die Professionalität und das Selbstverständnis von (Religions- und Ethik-)Lehrenden in Ost und West Aufschluss geben, nutzt H. zur Hypothesenbildung (267-280). Abschließend pointiert er in einem Rück- und Ausblick den Religionsunterricht in Sachsen-Anhalt als ein besonderes Risikofach, dem die interviewten Lehrenden allerdings gute Chancen und eine nicht zu unterschätzende eigene Qualität zuschreiben (281-283).

Die in der Untersuchung zu Wort gekommenen Lehrenden haben Wende und Wandlung in ihrem beruflichen Selbstverständnis und in ihrem Unterrichtsverständnis erfahren; diese berufsbiographischen Veränderungsprozesse sind durch die Teilnahme an der Weiterbildung in pädagogischer, methodischer und persönlicher Hinsicht verstärkt oder angestoßen worden. Ihre Bildungsgeschichten sind Geschichten fundamentaler Neuorientierungen, gerade auch im Bereich der religiösen Sozialisation. Eine Lehrerin stellt heraus: "Christlich erzogen worden bin ich schon immer, aber was christliche Tradition in der Gegenwart bedeutet, ist mir erst in der Weiterbildung klargeworden." (187)

Für diese Studie gilt: In ihren Rückblicken auf den eigenen Berufsweg haben die interviewten Lehrkräfte deutlich gemacht, "dass es auch in der DDR eine Wirklichkeit jenseits der offiziellen politischen und pädagogischen Programme gegeben hat" (281), weil "das DDR-System Möglichkeiten ... für Lehrerinnen und Lehrer (enthielt) sich zu entziehen, Alltagsopposition anzudeuten, pädagogisch zu handeln und vorsichtig Differenz zum System zu indizieren" (257).

H.s Studie ist eine gelungene und wohltuende Ergänzung zu rein quantitativ-empirischen Untersuchungen und ein wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Lehrer-Geschichte. Nach Aussage der interviewten Lehrpersonen fehlt in den Kollegien nach wie vor die Kompetenz in der Reflexion und der Kommunikation über das eigene Lehrerdasein vor und während der Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. In diesem Sinne kann H.s Arbeit ein geeigneter "Türöffner" sein. Sie ist überdies ein Plädoyer für einen differenzierten Umgang mit der DDR-Lehrer-Geschichte. Das Bemühen um Transparenz des Forschungsprozesses und den behutsamen und redlichen Umgang mit den Gesprächspartnern und -partnerinnen führt allerdings zu Redundanzen und Längen in der Darstellung, die die Lesefreude zuweilen schmälern.

In seinen religionspädagogischen Deutungen setzt H. aktuelle religionspädagogische Entwicklungen in Beziehung zu den persönlichen Einschätzungen der Lehrpersonen. Es ist gut, dass diese Deutungen als ein Interpretationsangebot zu verstehen sind, denn sie provozieren sowohl Zustimmung als auch Widerspruch und eröffnen somit vielfältige Möglichkeiten zur religionspädagogischen Diskussion.

Neben den vielen anderen Erträgen vermag H.s Studie der Forschung zur (religiösen) Sozialisation von Lehrenden und der konzeptionellen Arbeit an theologisch-religionspädagogischen Fort- und Weiterbildungen in Ostdeutschland wichtige Impulse zu geben. Lehrerforschung wird sich daran zu bewähren haben, wie sie den Anspruch der Selbst-Beteiligung von (Religion) Lehrenden an den Forschungsprozessen einlösen wird. Gute Fort- und Weiterbildungen werden sich daran messen lassen, welche Aussagekraft und Bedeutsamkeit sie für die Berufssozialisation der teilnehmenden Lehrer und Lehrerinnen haben.