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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

999–1001

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wolfers, Melanie

Titel/Untertitel:

Theologische Ethik als handlungsleitende Sinnwissenschaft. Der fundamentalethische Entwurf von Klaus Demmer.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag; Freiburg i. Br.-Wien: Herder 2003. 404 S. gr.8 = Studien zur theologischen Ethik, 99. Kart. Euro 48,00. ISBN 3-7278-1413-6 (Universitätsverlag); 3-451-28071-X (Herder).

Rezensent:

Hartmut Kreß

In den letzten Jahren traten zwischen katholischer Kirche und katholischer Morallehre einerseits, der evangelischen Ethik andererseits die positionellen, methodischen und argumentativen Unterschiede wieder stärker zu Tage. Dies zeigte sich vor allem in der Bioethikdebatte. Um so interessanter ist die Frage, ob nicht doch wechselseitige Anknüpfungspunkte bestehen und in welcher Hinsicht Möglichkeiten der Konvergenz zwischen protestantischer und katholischer Ethik erkennbar werden könnten. Die an der katholischen Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. verfasste Dissertation von Melanie Wolfers befasst sich mit der moraltheologischen Konzeption von Klaus Demmer (geb. 1931), der dem Orden Missionarii Sacratissimi Cordis Jesu angehört und an prominentem Ort, der Gregoriana in Rom, lehrte (26). Ihr Buch lädt die evangelische Ethik dazu ein, sich im Spiegel von Demmers Werk die neuere gedankliche Entwicklung der katholischen Morallehre zu vergegenwärtigen.

Die mit circa 400 Druckseiten sehr umfangreiche Dissertation bietet zunächst eine "werkgenetische" Darstellung und zeichnet verschiedene Schriften Demmers, darunter seine Augustinusinterpretation, nach (64-197). Sodann entfaltet sie einen systematischen Abriss seines Denkansatzes (199-374). Dieser Aufbau bringt es mit sich, dass das Buch sehr gründlich angelegt ist, aber Redundanzen enthält. Die für Demmer zentralen Denkmotive treten deutlich zu Tage. Zu ihnen gehören seine Orientierung an einem theologischen Freiheitsgedanken, nämlich der Wesensfreiheit, die mehr sei als bloße Wahlfreiheit (81), eine an Ignatius anknüpfende "spirituelle" Grundlegung der Morallehre oder die Orientierung an der Geschichtlichkeit von Vernunft und menschlicher Existenz. Die Dissertation hält es für ein wesentliches Merkmal seines Werkes, zwischen den beiden gegensätzlichen Polen der neueren katholischen Morallehre, der liberaleren autonomen Moral einerseits und der Glaubensethik andererseits, einen Mittelweg aufzeigen zu wollen (144). Das Bemühen um Vermittlung ist für Demmers opus in ganz unterschiedlicher Hinsicht leitend. Denn ihm lag ebenfalls daran, zwischen der neuzeitlichen Wendung zum Subjekt und einem auf Augustinus und Thomas gründenden theologischen Menschenbild, das von der Idee der reditio completa geprägt sei, eine Vermittlung zu finden (120).

Die Suche nach Vermittlungen und Harmonisierungen mag es wenigstens zum Teil erklären, warum Demmers Publikationen oftmals blass, abgehoben und alltagsfern wirken. Die vorliegende Dissertation verschweigt dieses sprachliche und sachliche Desiderat nicht, sondern erwähnt den hohen Abstraktionsgrad, den schwebenden Sprachstil und den Mangel an Konkretion, die für Demmers Werk charakteristisch sind (100. 188.203.228). So sehr er abstrakt und auf theoretischer Ebene den Stellenwert der Geschichtlichkeit und die Notwendigkeit ethischer Konkretion betonte, unterließ er es, selbst in nennenswertem Maß konkret zu werden. In ihrem Kern lässt sich seine Konzeption als eine "mystagogische Theologie" (29) deuten, die spirituell in der subjektiven persönlichen Glaubenserfahrung ihres Verfassers gründet.

Anknüpfend an die in der Dissertation gegebene Darstellung ist anzumerken, dass eine solche ignatianisch-spirituelle Grundlegung wohl keine adäquate Absprungbasis bietet, um zu realen Konflikten und zu materialethischen Problemen, die in der Gegenwart diskutiert werden, Handlungsvorschläge zu entwickeln, die operationalisierbar, gesellschaftlich und kulturphilosophisch plausibilisierbar und allgemein tragfähig wären. Demmers Denkansatz läuft auf eine Individualethik bzw. auf eine so genannte Strebens- oder Tugendethik hinaus, welche auf katholische Christen, faktisch wohl nur auf eine Minderheit unter ihnen, zugeschnitten ist. Seine Morallehre orientiert sich an der "Bestimmung des eschatologisch finalisierten, normativen Selbstverständnisses der glaubenden Person" (213) - ein anthropologisches Leitbild, das recht abgehoben ist und zu heutigen soziologischen Gegebenheiten sowie den Alltags-, Arbeits- und Berufsrealitäten, mit denen die Mehrheit der Zeitgenossen zu tun hat, kaum Bezug besitzt. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob eine Ethiktheorie tatsächlich in der Weise angelegt werden sollte, dass die eigene spirituelle Existenz ihres Autors die Grundlage bildet. Diese Frage stellt sich erst recht aus protestantischer Perspektive, da lutherische Ethikansätze im Sinn der Zweireichelehre auf die allgemein-menschliche, kommunikationsoffene "weltliche Vernunft" Wert legen (Zweireichelehre) und - hierzu ist an Ernst Troeltsch oder an Trutz Rendtorff zu erinnern - an der Relevanz christlicher Ethik für die weltliche Kultur und für den modernen Rechtsstaat interessiert sind.

An der vorliegenden Dissertation fällt auf, dass sie nicht weiter darauf eingeht, ob oder inwiefern Demmers Denkansatz den interkonfessionellen, katholisch-evangelischen Ethikdialog bereichern könnte. Als evangelischer Theologe, der bei ihm eine Rolle spielt, wird im Wesentlichen nur Karl Barth genannt (70ff.). Zu dem Ende der 1970er Jahren erschienenen, damals von einem gemeinsamen evangelisch-katholischen Bemühen getragenen "Handbuch der christlichen Ethik" hat Demmer Distanz gewahrt (vgl. 194). Spiegelt sich hierin, dass einer interkonfessionellen Ethik im 20. Jh. letztlich doch nur ein relativ geringer Stellenwert zukam, so dass der gegenwärtige Stillstand ökumenischer Ethik gar nicht neuartig und verwunderlich wäre?

Die von Demmer erörterten anthropologischen, theologischen und prinzipienethischen Themen, darunter die Deutung von Freiheit, der Gewissensbegriff, die Reflexion der Geschichtlichkeit ethischer Einsichten oder das Bemühen um eine der Gegenwart adäquate Rezeption der Naturrechtstradition, sind als solche ebenfalls von der protestantischen oder der philosophischen Ethik aufzuarbeiten. Seine These der menschlichen Wesensfreiheit bedürfte dabei einer kritischen Analyse auch im Licht der medizinischen Anthropologie und der heutigen Neurophilosophie. Aus protestantischer Sicht ist bemerkenswert, dass Demmer zumindest behutsam an manchen Positionen der katholischen Amtskirche Kritik übte. Zum naturrechtlichen Integralismus des katholischen Lehramtes und zum Anspruch der Amtskirche, die von ihr jeweils gelehrten moralischen Positionen "immer schon" vertreten zu haben, äußerte er sich zurückhaltend (202; vgl. 238, Anm. 63). Diese Kritik resultierte aus dem Anliegen seiner Morallehre, die Geschichtlichkeit und die stete Verbesserungswürdigkeit und -fähigkeit ethischer Einsichten hervorzuheben ("kreative Meliorisierung" [185]). Ein anderer, mit Demmers Postulat der ethischen Meliorisierung zusammenhängender Gedankengang bleibt in der von ihm vorgetragenen Form indessen recht unbestimmt: Zum Zweck ethisch-normativer Fortentwicklungen seien "ethische Eliten" notwendig (186 ff.). Ungeklärt bleibt, an welche Handlungsbereiche und an welche Personengruppen gedacht wird und wie die Kriterien lauten, an denen sich ihre Funktion als Elite bemessen lassen müsste.

Die Dissertation enthält durchaus Kritik an Ideen und Argumenten Demmers. Sie ist darin verdienstvoll, auf sein Werk gründlich und ausführlich aufmerksam gemacht zu haben. Seine Überlegungen zur geschichtlichen Bedingtheit und Wandelbarkeit der Ethik, zur Notwendigkeit des ethischen Erkenntnisfortschrittes, sein Postulat einer dynamischen Theorie der Güterabwägung (236) oder der von ihm gesetzte Impuls zur permanenten Suche nach "besseren Handlungsalternativen" (220) verdienen Beachtung. Insgesamt bietet sein Werk für den interkonfessionellen Ethikdialog oder für die Plausibilisierung theologischer Ethik im Kontext der modernen pluralistischen Gesellschaft dann aber doch nur wenige Anknüpfungspunkte. Auch die drängenden Probleme der Verhältnisbestimmung zwischen christlich orientiertem Alltagsethos oder akademischer Moraltheologie einerseits, dem hierarchischen Autoritätsanspruch des kirchlichen Lehramtes andererseits, die ja auch außerhalb des katholischen Christentums aufmerksam beobachtet werden, bleiben ganz in der Schwebe.