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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

997–999

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schaupp, Walter

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit im Horizont des Guten. Fundamentalmoralische Klärungen im Ausgang von Charles Taylor.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag; Freiburg i. Br.-Wien: Herder 2003. 489 S. gr.8 = Studien zur theologischen Ethik, 101. Kart. Euro 75,00. ISBN 3-7278-1430-6 (Universitätsverlag); 3-451-28237-2 (Herder).

Rezensent:

Christoph Seibert

Derzeit erfreut sich das Werk des kanadischen Philosophen Charles Taylor sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Theologie zunehmender Beliebtheit. Ein Grund dafür dürfte wohl sein, dass in den Arbeiten Taylors eine theoretische Einstellung leitend ist, die sich nicht scheut, hinter bislang dominante Paradigmen öffentlicher Kultur zurückzufragen, um sie im Lichte umfassender epistemologischer und anthropologischer Überlegungen zu prüfen. Ein solches Paradigma bildet die klassisch liberale Auffassung einer Trennung der Frage nach dem guten Leben von der Idee des Gerechten: Während das Gute rein partikulare Geltung besitze und daher auf die privat-subjektive Sphäre eingegrenzt werden müsse, solle dem Gerechten, das in der Idee allgemeiner Rechte Ausdruck findet, universale Geltung zukommen. Allein im Horizont des Gerechten solle dann unter Absehung von Fragen nach dem guten Leben die gesellschaftliche Ordnung begründet werden.

Es ist dieses Modell einer Unabhängigkeit des Gerechten vom Guten, das W. Schaupp in seiner Habilitationsschrift im Fach Moraltheologie unter Zugriff auf die Theorie Taylors einer durchgreifenden Kritik unterzieht, dabei aber auch eine Alternative entwickelt. Ausgehend von der Diagnose, dass sich die Moraltheologie gerade angesichts der Trennung des Guten vom Gerechten in einer prekären Lage befinde (9.449 f.), erwächst für Sch. die Aufgabe, dieses Modell so zu widerlegen, dass dabei die "Gerechtigkeit im Horizont des Guten" lokalisiert wird. Dies kann freilich nur gelingen, wenn a) die Unausweichlichkeit der Frage nach dem Guten auch für den Gerechtigkeitsdiskurs herausgestellt wird; und wenn b) das Gute aus seiner Reduktion auf die Sphäre des bloß Subjektiven befreit und dessen soziale Dimension erhellt wird (10).

Die Emanzipation des Guten von der Vorherrschaft einer inhaltsarmen Vernunft will jedoch nicht den Eigensinn des Gerechten selbst in Frage stellen oder es gar als bloße Funktion des Guten begreifen. Vielmehr versteht Sch. das Verhältnis zwischen beiden als irreduzibel: Weder die Perspektive des Guten noch die des Gerechten kann für sich allein das Phänomen des Moralischen zureichend erfassen (11f.). Dieses konstituiert sich in der Wechselseitigkeit beider Perspektiven, wobei der Akzent bei Sch. zweifelsohne darauf liegt, dass die Frage nach dem Guten alle Gerechtigkeitsüberlegungen begleitet. Das Gerechte bildet somit nur eine notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung des moralischen Standpunktes (438 f.). Soviel sei zum inhaltlichen Profil gesagt. Im Folgenden soll die Konzeption der Arbeit näher betrachtet werden.

Dabei fällt ihre übersichtliche Gliederung auf: Nach einer systematischen Problemexposition (15-139) liefern der zweite und der dritte Hauptabschnitt eine kritische Rekonstruktion der für das Thema einschlägigen theoretischen Einsichten Taylors (141-391). Diese Einsichten teils aufnehmend wird im vierten Abschnitt dann eine eigene Lösung des Problems ausgearbeitet, woraus Konsequenzen für die aktuelle Aufgabe und den Ort der Moraltheologie gezogen werden (393-468). Zu einigen Details: Der erste Teil erörtert zuerst das Problem des Verhältnisses zwischen dem Guten und dem Gerechten unter "nachmetaphysischen" Bedingungen. Dabei wird im Einzelnen gezeigt, dass auch die Vertreter der Unabhängigkeitsthese - vor allem J. Habermas und J. Rawls werden genannt - selbst nicht umhin können, ihre Überlegungen im Lichte von Vorstellungen über das Gute anzusiedeln, mögen diese auch noch so schwach formuliert sein. Angesichts dieses Ergebnisses geht Sch. dann dazu über, dem gegenwärtigen Interesse an einer Ethik des guten Lebens nachzuspüren. Er geht auf verschiedene Theorien des Guten ein (etwa M. Seel, M. Nussbaum), findet aber vor allem im Ausdrucksgeschehen der ästhetischen Erfahrung wertvolle Anregungen für die Ausarbeitung der eigenen These. Insgesamt bleiben alle angeführten Theorien allerdings hinter der radikalen Frageeinstellung zurück, die nach Sch. erforderlich ist, um die besagte Marginalisierung des Guten zu überwinden.

Eine solche radikale Fragerichtung findet er indessen in Taylors Schriften, so dass die kritische Rekonstruktion der Taylorschen Theorie im zweiten und dritten Teil organisch an den ersten anschließt. Dabei interessiert vor allem, dass Taylor in seinem Rückgriff hinter kantische Prämissen die Bedeutung des Guten für die Moralität hervorhebt und dies auf dem Weg umfassender fundamentalanthropologischer Überlegungen geschieht, in deren Zentrum eine Theorie "situierter Subjektivität" steht. Die Rekonstruktion der Taylorschen Überlegungen ist dabei größtenteils genetisch angelegt, indem nachvollzogen wird, in welchen Auseinandersetzungen Taylor seine Position entwickelt. Dieser Zugang hat den Vorzug, dass er systematische Aspekte mit geschichtlichen verbindet, so dass der Leser sowohl mit Taylors Kritik der neuzeitlichen Entwicklung als auch mit dem systematischen Kern seiner Theorie bekannt gemacht wird. Dabei sind die sprachanalytischen, phänomenologischen und hermeneutischen Hintergründe Taylors stets mitbedacht.

Im zweiten Teil werden auf diesem Weg die epistemologischen und anthropologischen Voraussetzungen im Lichte der vor allem in Sources of the Self zu findenden Kritik neuzeitlicher Identität dargelegt. Daraufhin beleuchtet Sch. ausgehend von den Philosophical Papers verschiedene Aspekte des so gewonnenen Begriffs einer "situativ engagierten Subjektivität". Nachdem diese theoretischen Weichenstellungen nachvollzogen sind, beschäftigt sich der dritte Teil eingehend mit Taylors Theorie des Guten. Über eine kritische Analyse der Theorie des moralischen Urteils kommt es dabei zur Profilierung der These, dass das Gute den unausweichlichen Hintergrund für die Bildung individueller und gemeinschaftlicher Identität bildet. Diese These wird allerdings nicht blind übernommen, sondern zumindest an einer entscheidenden Stelle kritisiert: Im Anschluss an A. Honneth macht Sch. darauf aufmerksam, dass Taylor den universalen Gehalt gleicher Anerkennung, der in der Gerechtigkeitsforderung impliziert ist, nicht gebührend berücksichtigt (369.381).

Diese Kritik wird im vierten Teil aufgenommen. Sch. zeigt, dass es um der Universalität des Guten willen erforderlich ist, die Anerkennung gleicher Rechte als eine eigenständige Perspektive zu wahren. Denn nur dadurch sei es möglich, den von Taylor selbst favorisierten öffentlichen Diskurs über das Gute nicht kontextuell zu verengen, sondern universal offen zu halten (417f.). Somit kommt es durch kritische Aufnahme Taylors zur Entfaltung der eigenen Sicht von der Irreduzibilität des Gerechten und des Guten. Am Ende der Arbeit nimmt Sch. seinen Ausgangspunkt wieder auf und wendet die Ergebnisse auf die Aufgabe der Moraltheologie an. Dabei fällt besonders die katholische Perspektive auf, die die gesamten Überlegungen durchzieht und sich besonders in der Ekklesiologie zuspitzt (461 f.). Im Anschluss an Taylor weist Sch. dann einen Weg, wie die Moraltheologie sich auf ihr vorausliegendes Ethos besinnen und dennoch am öffentlichen Diskurs teilhaben kann. Das soll zumindest dann möglich sein, wenn es gelingt, die Glaubensinhalte in die nicht-religiöse Sprache des Diskurses zu übersetzen (452. 464). Dass eine solche Übersetzung ohne Verfremdungseffekte möglich ist, scheint durchgängig vorausgesetzt. Doch, so kann gefragt werden, liegt diese Sprache überhaupt als eindeutig identifizierbares Faktum vor? Und wenn ja, wer soll die erforderlichen Identifikationsleistungen erbringen?

Insgesamt finde ich Sch.s Arbeit vor allem aus zwei Gründen empfehlenswert: Anhand einer systematischen Kritik der Trennungsthese liefert sie einen problembezogenen Überblick über die gegenwärtige ethische Debatte und stellt auf eine gute Weise die Bedeutsamkeit der Theorie Taylors heraus, ohne dabei deren sachliche Probleme zu verschleiern.