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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

995–997

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Maio, Giovanni

Titel/Untertitel:

Ethik der Forschung am Menschen. Zur Begründung der Moral in ihrer historischen Bedingtheit.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002. 396 S. 8 = Medizin und Philosophie, 6. Kart. Euro 45,00. ISBN 3-7728-2196-0.

Rezensent:

Georg Plasger

Die in weiten Teilen gut und spannend zu lesende gekürzte Habilitationsschrift des Freiburger Medizinhistorikers und Ethikers G. Maio widmet sich der nicht nur in Ethikkommissionen relevanten Frage, wie die Forschung am Menschen ethisch beurteilt werden kann. Dieser eigentlich erst in den letzten Jahrzehnten auf Grund der wachsenden (auch bioethischen) Herausforderungen und der gesellschaftlichen Entwicklung in den Vordergrund getretenen Thematik stellt sich die zweigleisig konzipierte Arbeit: Im ersten Hauptteil untersucht M. die Fragestellung (stärker) aus philosophischem Blickwinkel, im zweiten Hauptteil weist M. seine Grundthese, dass jegliche ethische Urteilsfindung wertbeladen, relational und kontextgebunden (107) ist, am Beispiel der Diskussion in Frankreich von 1945 bis 1988 in stärker historischer Perspektive nach.

Womit ist die Forschung am Menschen zu rechtfertigen? Im Wesentlichen werden nach Auffassung M.s drei Gründe angeführt: die Einwilligung der Versuchspersonen, der therapeutische Nutzen und das minimale Risiko. Jedoch sind alle drei Kriterien zu differenzieren, die ihnen ihre scheinbare Eindeutigkeit und Objektivität nehmen. Bezüglich der Einwilligung benennt M. vier Prinzipien, die zu berücksichtigen sind, um sie als Kriterium nutzen zu können: Intentionalität, Freiwilligkeit, Verstehen und Authentizität. Hinsichtlich der Diskussion um die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen (also Bewusstlosen, Kindern, Demenzkranken und debilen Personen), die M. in der Folge fokussiert, treten die beiden anderen Gründe, die nach M.s Auffassung in Deutschland und den angelsächsischen Ländern zu wenig reflektiert werden, in den Vordergrund. Mit Blick auf den therapeutischen Nutzen lautet das Ergebnis, dass "der forschungslegitimierende Charakter ... insgesamt überbewertet wird" (83). Denn die Objektivität ist auch hier nicht gegeben: Es ist zu fragen, was warum wem nützt. M. sieht deshalb das Argument vielfach als Deckmantel eigener Interessen benutzt und missbraucht. Der dritte Grund, das minimale Risiko, ist ebenso schwer eindeutig feststellbar und zu bewerten. Denn was für wen ein Risiko darstellt und ob von möglichen subjektiven oder objektiven Schäden ausgegangen werden kann, ist nicht aus sich selbst heraus klar: Die Bestimmung jedes Risikos (und damit auch die Minimierung eines solchen) hängt von Werten, Relationen und Kontexten als Parametern ab.

Wenn aber weder der therapeutische Nutzen noch die Risikominimierung für sich selbst stehen können: Ist dann die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen überhaupt noch zu legitimieren? Das schließt M. nicht aus, aber nur - mit Betonung einer an Rawls angelehnten Gerechtigkeitsvorstellung sowie der Menschenwürde - unter der Bedingung, dass vor allem im Blick auf die persönliche Biographie der Versuchsperson glaubhaft davon auszugehen sei, sie "würde einer solchen Teilnahme zustimmen, wenn man sie fragen könnte" (319).

Mit dieser Möglichkeit einer Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen stellt sich M. gegen Äußerungen von Hans Jonas, der eine solche Forschung strikt abgelehnt hatte. Aber gleichzeitig ist erkennbar, dass M. sich selbst in der Tradition von Jonas stehend sieht, weil er dessen ethische Argumentation zeitgeschichtlich und deshalb angesichts der Diskussion der 60er Jahre als verständliches protektives Argumentationsmodell (178) verortet. M. hat darin auch ein gewisses Recht, weil er die Jonassche "Regel der absteigenden Reihe" selbst schon als ein Durchbrechen apodiktischer Aussagen versteht. Überhaupt ist Jonas der in der Arbeit am häufigsten zitierte Autor - und auch das weist schon darauf hin, dass sich die Arbeit von M. zugleich als Auseinandersetzung mit der strikten Argumentation von Jonas lesen lässt: Wie ist angesichts einer veränderten Forschungs- und Gesellschaftslage der grundsätzlich von M. begrüßte verantwortungsethische Ansatz plausibel zu machen? Eine rein präferenz-utilitaristisch vorgehende ethische Argumentation wehrt M. auf beinahe jeder Seite ab. Zusammengefasst also lautet M.s Ergebnis bis hierher, dass jedes ethische Argument nicht für sich stehen kann, sondern kontextabhängig und damit an Werte und Interessen gebunden ist.

Der zweite hier knapper darzustellende Teil weist dies exemplarisch an der Diskussion in Frankreich von 1945 bis 1988 nach. Bis in die 70er Jahre hinein herrschte eine relativ strikte Ablehnung von Humanexperimenten vor. Dabei kamen in der Praxis wohl nicht weniger Versuche vor - diese wurden jedoch einseitig vom Arzt als moralischer Instanz beurteilt und als therapeutisch deklariert. Die Einwilligung des Patienten wurde nicht als maßgeblich verstanden. Erst 1988 wurde in Folge verschiedener (u. a. ökonomischer und nationaler) Interessen und Affären ein Forschungsgesetz verabschiedet, in dem im Vergleich zu vielen anderen Ländern striktere Regelungen für die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personengruppen festgeschrieben wurden. Ein knapper Blick auf die deutsche Diskussion nach 1945 rundet diesen Teil ab.

Die im Bereich der kontextsensitiven Ethik stehende Arbeit beeindruckt durch ihre Klarheit und ihren hohen Differenzierungsgrad. Sie ist auch für einen Nichtmediziner mit großem Gewinn lesbar. Die Verzahnung der beiden Hauptteile wirkt etwas schematisch und starr, wenn sie auch der Logik nicht entbehrt. Die Arbeit hätte vielleicht noch stärker den nötigen Ausblick auf die andernorts (etwa in den anglo-amerikanischen Ländern) geführte Diskussion bieten können, um auch dort die kulturelle Bedingtheit der Forschungen andeuten zu können. Das ist ansatzweise geschehen: Auf S. 61 versteht M. die Betonung auf die Einwilligung als "Ausdruck ... der amerikanischen Kultur des Individualismus". Hier wäre zu fragen, wie sich diese Bemerkung dazu verhält, dass M. letztlich die mutmaßliche Einwilligung zum entscheidenden Kriterium macht. Die reinen Andeutungen zu vertiefen wäre auch kulturgesellschaftlich lohnenswert.

Was ist als Ergebnis der Arbeit festzuhalten? Im europäischen Vereinigungsprozess kann nicht von einer einheitlichen ethischen Diskussion ausgegangen werden. Kulturell und weltanschaulich unterschiedlich geprägte ethische Argumentationen stehen einer einheitlichen und daher tendenziell vereinfachenden Lösung entgegen. Der Gebrauch keines Argumentes ist interesselos. Es ist nach M.s Erkenntnis kein Schade, dies anzuerkennen, sondern vielmehr ein Gewinn, weil im Mittelpunkt immer das Interesse des Menschen steht, über den nicht einfach verfügt werden darf.

Was ist der Erkenntnisgewinn für eine theologisch-ethische Diskussion? Ich sehe ihn in (mindestens) zwei Punkten. Einerseits mutet M. zu, in jeder ethischen Entscheidung hinter dem Probanden den betroffenen Menschen zu sehen, der nach christlichem Verständnis Bruder und Schwester Jesu Christi ist. Und zweitens ermutigt er die Theologie und die Kirchen zum offensiven Einbringen ihrer eigenen kontextuell zu erkennenden und zu verortenden Werte. Weil es keine wertneutralen Argumente gibt, können und dürfen Kirche und Theologie ihre Gesprächsrolle auch nicht nur moderierend wahrnehmen, sondern haben Anwälte der Betroffenen zu sein.

Die Forschung am Menschen verdient ethische Aufmerksamkeit. M.s zu beachtendes Buch verhilft dazu.