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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

993–995

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut

Titel/Untertitel:

Medizinische Ethik. Kulturelle Grundlagen und ethische Wertkonflikte heutiger Medizin.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 208 S. gr.8 = Ethik - Grundlagen und Handlungsfelder, 2. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-017176-3.

Rezensent:

Peter Dabrock

Ein Lehr- und Studienbuch zu verfassen stellt für den Autor ein riskantes Unterfangen dar: Argwöhnisch blicken Kolleginnen und Kollegen darauf, wie besagter Autor den state of the art definiert (und ob sie selbst dazu gehören); Studierende erwarten ein didaktisch gut aufbereitetes Kompendium, das ihnen eine erste Orientierung in einer in der Regel fremden Materie bietet; und der noch um eine möglichst faire Darstellung der unterschiedlichen Positionen bemühte Autor verzichtet ungern darauf - und sollte es auch nicht -, der Darstellung seine eigene Note zu geben. Im Falle der Abfassung eines Lehr- und Studienbuches zur "Medizinischen Ethik" steigern sich die genannten Schwierigkeiten, weil nicht nur eine lange Tradition kultureller Hintergrundüberzeugungen zu berücksichtigen ist, sondern auch aktuelle Entwicklungen in den biomedizinischen Wissenschaften aufbereitet werden müssen. Hartmut Kreß, der wie sein Bonner Lehrer und Vorgänger im Amte, Martin Honecker, seit Jahren einen Forschungsschwerpunkt im Bereich der biomedizinischen Ethik besitzt, bringt diese Expertise mit, um sich den genannten Risiken nicht nur auszusetzen, sondern um sie - das kann schon vorweggenommen werden - souverän zu meistern.

Der formale Aufbau des Buches ist stringent: Zunächst werden die "kulturellen und normativen Grundlagen der Medizinethik" (11-87) skizziert, dann vor deren Hintergrund einzelne "ethische Wertkonflikte heutiger Medizin" (89-191) erörtert; ein kurzes Resümee (191 f.), Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister schließen den Band ab. Sehr übersichtlich werden häufig (nicht immer), dem Lehrbuchcharakter sehr dienlich, hilfreiche Zwischenüberschriften eingefügt.

K. bleibt seinem in den vorausgegangenen Büchern entwickelten konzeptionellen Anliegen treu, evangelisch-theologische Propria vor allem vom Verständnis der Personwürde und der dialogisch perspektivierten Verantwortung her zu entwickeln. Für die Medizinethik folgt daraus, für die Konzeption einer "patienten- oder personorientierten Medizin" (24) zu werben, die von einem qualitativen Individualismus (24-27) ausgeht. Dieser müsse sich nicht nur in der Berücksichtigung der "medical history" des Patienten, sondern auch seiner "value history" (24) bewähren; deshalb müsse der sprechenden Medizin und ihrer (auch für kulturelle Divergenzen sensiblen) Beratungsintention mehr Gewicht beigemessen werden. Diese mindestens genauso von der Dialogphilosophie wie von evangelischer Theologie inspirierte Medizinethik wird dann auf die Grundpfeiler des heutigen Medizinsystems bezogen: in historischer Perspektive werden die Ablösung der Medizin aus der Religion thematisiert (28-32), der Vorwurf der Freiheitsgefährdung durch die moderne Medizin kritisch hinterfragt (33-41, dabei wird auch das tabuisierte Thema der Hirngewebstransplantation behutsam gestreift), die kryptonormativen Implikationen des Gesundheits- und Krankheitsbegriffs eruiert (42-57), schließlich ein Recht auf Gesundheit (besser: Gesundheitsversorgung) gefordert (58- 78), das dann unter Einbeziehung der Probleme der sich entwickelnden Welt durch die Frage nach der gerechten Mittelverteilung im Gesundheitswesen entfaltet wird (79-87). Innovativ erweist sich, dass K. den Paradigmenwechsel von der rein kurativen Medizin hin zur prädiktiven und präventiven Medizin aufgreift (50-57). Diese "Futurisierung von Krankheit" wird vor allem dann problematische Konsequenzen zeitigen, wenn man einem genetischen Determinismus huldigt, der jedoch, wie K. wohl informiert belegen kann, längst obsolet ist.

Bei den ethischen Wertkonflikten "um Leben und Tod" wendet sich K. neben der Problematik medizinischer Forschung (89-98) im Bereich des Lebensanfangs dem "Zielkonflikt zwischen Embryonenschutz und medizinischer Therapie" zu (99-127). Über die historischen und systematischen Darstellungen verweist K. angesichts bleibender Meinungspluralität auf die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Kompromisse (118 ff.), verschweigt aber auch nicht seine eigene ethische Position eines Schutzgradualismus, den er durch zwei Argumente begründet sieht: auf der Sachebene komme erstens dem Zeitpunkt der Nidation eine herausragende Bedeutung zu, zweitens sei auf der Wertebene zwischen Menschenwürde und Lebensschutz zu unterscheiden (123-127). Eine Überlegung, dass ihre Koppelung zumindest für einen unauflöslichen Konflikt steht, der nicht in der K.s Ansatz immer wieder prägenden "Güterabwägung" (123) aufgeht, hätte die Ausführungen gerade aus evangelisch-theologischer Perspektive noch ergänzen können. Wie in anderen ethischen Feldern sein Mitarbeiter Frank Surall macht K. eine bisher in der theologischen wie nichttheologischen Bioethik sträflich vernachlässigte Dimension, das "Kindeswohl", in den Handlungskonflikten der Fortpflanzungsmedizin, speziell in der von ihm als Option befürworteten PID, stark und eröffnet über die ontologischen oder auch feministischen Positionen hinaus eine überaus bedeutsame Neuperspektive (128-141). Bei der Erörterung der Transplantationsmedizin im "Wertkonflikt zwischen Schadenzufügung und Lebensrettung" (142-161) besteht über die solide Darstellung der bekannten Probleme von Hirntod, Einwilligung und Organallokation hinaus ein Schwerpunkt bei der Bewertung der Lebendspende, die nach K. derzeit zu eng geregelt ist, s. E. vielmehr bei Vorliegen eines informed consent auch stärker unter dem Gesichtspunkt des Altruismus betrachtet und über Verwandtschaftsbeziehungen hinaus zugelassen werden sollte. Im umfangreichen Sterbehilfe-Kapitel (162-191) unter der Signatur des Wertkonfliktes "zwischen Schicksal, medizinischem Fortschritt und Selbstbestimmung" werden dessen historische Entwicklungen dargestellt, dann zu seiner Gestaltung für das Institut der Patientenverfügung (insbesondere in seiner narrativen Form) Partei ergriffen, schließlich die Palliativmedizin und die Hospizbewegung als wichtige Schritte gegen vorschnelles Befürworten der aktiven Euthanasie hervorgehoben. Dennoch leugnet K. nicht, dass es in "Grenzfällen" (186) zur Frage des rechfertigenden Notstandes kommen kann - hier unterscheidet er sich deutlich von den aktuellen kirchlichen Positionen in Deutschland.

Gerade weil sich die im Titel angesprochene Differenzsensibilität für Konflikte, die einfache Lösungen verhindert, wie ein roter Faden durch das Buch zieht und weil sich einerseits die kenntnisreiche und didaktisch wohl aufbereitete Darstellung und andererseits die deutlich gekennzeichnete, abgewogene Positionalität, die im Wertkonflikt der individuellen Gewissensfreiheit den Vorrang einräumt, fair die Waage halten, sind die Anforderungen des riskanten Unternehmens einer Einführung in die medizinische Ethik gänzlich erfüllt. Manch einer hätte sich ein noch stärkeres Eingehen auf theologische Erörterungen und speziell auch Kontroversen gewünscht, die nicht nur, wie vorwiegend bei K. geschehen, als Beiträge zur kulturellen Entwicklung begriffen werden, sondern ein Spiegelbild des Ringens um Verantwortung angesichts des komplexen Handlungsfeldes darstellen. Den kulturellen Umgang prägende, aber auch verfremdende Motive und Konzepte wie Rechtfertigung, Kreuz und Auferstehung hätten auch in (und gerade auf Grund) ihrer Nichtintegrierbarkeit in die dialogphilosophische Perspektive (nicht nur) für die theologischen Leserinnen und Leser noch vertieft werden können. Dennoch kann der vorliegende Band allen, die ein Lehrbuch suchen, das eine grundsolide Einführung in die Materie mit einer fairen Darstellung der unterschiedlichen Positionen verbindet und zugleich eine kommunikationsfähige Position präsentiert, ohne Zweifel empfohlen werden.