Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2005

Spalte:

990–993

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph

Titel/Untertitel:

Werke. Bd. 8: Schriften (1799-1800). Hrsg. v. M. Durner u. W. G. Jacobs unter Mitwirkung v. P. Kolb.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004. XIV, 575 S. 4 = Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Historisch-kritische Ausgabe. Reihe I: Werke, 8. Lw. Euro 270,00. ISBN 3-7728-1902-8.

Rezensent:

Christian Danz

In seinem wahrscheinlich im Herbst 1799 verfassten Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Wiederporsts spart Schelling nicht mit beißendem Spott über die positiven Religionen. Friedrich Schlegel, dem das Gedicht in Abschrift vorlag, berichtete Schleiermacher im November 1799, Sch. habe angesichts von Novalis' Schrift Die Christenheit oder Europa einen "neuen Anfall von seinem alten Enthusiasmus für die Irreligion bekommen" (397). Schleiermacher, dessen Reden Ueber die Religion neben Novalis' Fragment selbst Zielscheibe der Polemik Sch.s waren, war einer Publikation von Sch.s Gedicht in dem Athenäum nicht abgeneigt. Die Veröffentlichung von Sch.s Glaubensbekenntniß, welches in poetischer Form den Grundgedanken seiner Naturphilosophie zusammenfasst, kam auf Anraten Goethes nicht zu Stande. Der Atheismusstreit um Fichte war in der Gelehrtenrepublik noch gegenwärtig. Lediglich Auszüge aus dem Gedicht veröffentlichte Sch. in einem Miscellen überschriebenen Beitrag in der von ihm selbst seit 1800 herausgegebenen Zeitschrift für spekulative Physik (428-430). Die unter dem Titel Miscellen zusammengestellten Texte, welche ausnahmslos in einem engen Zusammenhang mit den naturphilosophischen Texten Sch.s seit 1797 stehen, bilden einen gewissen Abschluss von Sch.s früher Naturphilosophie. In Sch.s naturphilosophischen Schriften nach 1800, insbesondere denen, die der so genannten Identitätsphilosophie zuzurechnen sind, werden unter dem Titel Naturphilosophie nicht mehr primär Fragen abgehandelt, welche sich auf naturphilosophische Gegenstände im engeren Sinne richten.

Der vorliegende Band I/8 der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke Friedrich Wilhelm Joseph Schellings bietet in chronologischer Reihenfolge zehn von Sch. in den Jahren 1799 bis 1800 publizierte Schriften. Die Texte kreisen um zwei thematische Schwerpunkte. Einmal handelt es sich um Schriften zur Naturphilosophie: Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (27-76), Einige Bemerkungen aus Gelegenheit einer Rezension Brownscher Schriften in der A.L.Z. (109-114), Vorrede zu "Zeitschrift für spekulative Physik" (175-177), Anmerkung zu "Rezension der neuern naturphilosophischen Schriften des Herausgebers von Dr. Steffens" (201- 209), Allgemeine Deduction des dynamischen Processes (295- 366), Miscellen (409-435). Einen zweiten Schwerpunkt bilden Texte, welche Sch.s Streit mit der Allgemeinen Literatur-Zeitung dokumentieren:Bitte an die Herren Herausg. derA.L.Z. (139-142), Anhang zu dem voranstehenden Aufsatz, betreffend zwei naturphilosophische Rezensionen und die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung (241-271). Auch diese Texte stehen im Zusammenhang mit Sch.s früher Naturphilosophie. Der Streit mit der Allgemeinen Literatur-Zeitung, der zunehmend zu einem Streit Sch.s mit deren Herausgeber, Christian Gottfried Schütz wurde, und in gegenseitigen Beleidigungsklagen kulminierte (223 f.), nahm seinen Ausgang von zwei Rezensionen von Sch.s Schrift Ideen zu einer Philosophie der Natur vom Frühjahr 1797. Sch., der sich durch die beiden Rezensionen herausgefordert sah, schlug den Herausgebern der Allgemeinen Literatur-Zeitung Henrik Steffens als Rezensent einer weiteren Besprechung vor, was von den Herausgebern jedoch abgelehnt wurde. Die beiden Rezensionen sowie die Antwort der Herausgeber der Allgemeinen Literatur-Zeitung auf Sch.s Ansinnen werden in Beilagen zum Band dokumentiert (441- 452). Den literarischen Höhepunkt des Streits bildet Sch.s Streitschrift Anhang zu dem voranstehenden Aufsatz, betreffend zwei naturphilosophische Rezensionen und die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, welche im Jahre 1800 im ersten Heft des ersten Bandes der Zeitschrift für spekulative Physik sowie separat unter dem Titel Ueber die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung erschienen ist. Die Debatte um die Entwicklung der Transzendentalphilosophie im Kontext des Atheismusstreits um Fichte, insbesondere die Stellung Sch.s zu Kant dokumentiert ein kleiner Text vom 19.09.1799 mit dem Titel Zu einem Schreiben J.G. Fichte's (123-126).

Alle in dem Band publizierten Texte Sch.s sind nicht nur hervorragend ediert, sondern auch mit mustergültigen editorischen Berichten versehen, die detailliert über die Entstehung der betreffenden Texte, ihre Rezeption in den einschlägigen Rezensionsorganen, in der zeitgenössischen Briefliteratur sowie in anderen Schriften Auskunft geben. Erklärende Anmerkungen geben dem Leser Aufschluss über die Anspielungen auf frühere Texte Sch.s sowie die zeitgenössische naturwissenschaftliche und philosophische Literatur (453-512). Gegenüber den bisher erschienenen Bänden der Historisch-Kritischen Ausgabe bietet Band I/8 drei Neuerungen. In den edierten Texten Sch.s werden nicht mehr nur die Seitenzahlen des Erstdrucks angegeben, sondern auch - sofern die Texte aufgenommen wurden - die der Sämtlichen Werke. Damit entfällt die Seitenkonkordanz von Akademieausgabe und Sämtlichen Werken. Zweitens wird an diesem Band das Personenregister zu einem Namenregister (546-554) erweitert. Bei den schier unendlichen mythologischen Figuren, auf welche Sch. auch und gerade in seiner Naturphilosophie ab 1800 verweisen wird, stellt dies eine unumgängliche Neuerung dar. Und schließlich haben sich drittens die Herausgeber dazu entschlossen, die Querverweise von K. F. A. Schelling, dem Herausgeber der Sämtlichen Werke, auf andere Textstellen den betreffenden erklärenden Anmerkungen zuzuweisen und nicht mehr dem textkritischen Apparat. Das umfangreiche Register, welches neben dem Namen- ein Orts- (555-556) und Sachregister (557-570) sowie Seitenkonkordanz, Siglenverzeichnis und Bibliographie (515-545) enthält, erlaubt ein vorzügliches Arbeiten mit dem Band.

Die Eigenart der von Sch. zwischen 1799 und 1800 verfassten naturphilosophischen Schriften kann darin gesehen werden, dass sich sein Interesse zunehmend von der Rezeption der Resultate der zeitgenössischen empirischen Naturwissenschaft auf philosophisch-spekulative Fragen verlagert. Der Allgemeinen Deduction des dynamischen Processes, die etwa zeitgleich mit dem System des transcendentalen Idealismus entstand und die Sch. zeitlebens als einen Schlüsseltext seiner Naturphilosophie ansah, geht es um eine deduktive Konstruktion der Materie. Wie Kant konstruiert Sch. die Materie aus Kräften. Im Unterschied zu Kant schlägt Sch. einen synthetischen Weg ein. Eine "Deduction des dynamischen Processes", das Anliegen seines Textes, ist "einer vollständigen Construction der Materie selbst gleich zu schätzen" (298). Die Konstruktion der Materie, für Sch. die "einzige Aufgabe der Naturwissenschaft" (297), nimmt ihren Ausgang mit der Ableitung der drei Dimensionen des Raums aus dem identischen Subjekt der Natur und bestimmt Magnetismus, Elektrizität und chemischen Prozess als Modifikationen des dynamischen Prozesses. Dieser bildet die Grunderscheinung, in der sich die Natur selbst konstruiert. Begründungsfragen der Naturphilosophie treten nun in den Vordergrund. In Paragraph 63 der Allgemeinen Deduction geht Sch. explizit auf das Verhältnis der "Naturphilosophie zum Idealismus" (364) ein. Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie entsprechen sich. Es geht um die Geschichte des Selbstbewusstseins, das prominente Thema des Systems des transcendentalen Idealismus. Das Selbstbewusstsein deutet Sch. als Intention der Natur und verbindet dies mit einer Kritik an dem Idealismus Fichtes. "Der Idealist hat Recht, wenn er die Vernunft zum Selbstschöpfer von allem macht, denn dieß ist in der Natur selbst gegründet - er hat die eigne Intention der Natur mit dem Menschen für sich, aber eben weil es die Intention der Natur ist - (wenn man nur sagen dürfte, weil die Natur darum weiß, daß der Mensch auf solche Art sich von ihr losreißt!) - wird jener Idealismus selbst wieder zum Schein; er wird selbst etwas Erklärbares - und damit fällt die theoretische Realität des Idealismus zusammen." (365)

Mit der Figur des Losreißens des Selbstbewusstseins von der Natur, obwohl es Intention der Natur ist, schlägt Sch. ein Thema an, das die Schriften nach 1800 aufnehmen und weiterführen werden. Diese Figur wird von Sch. in seinen religionsphilosophischen Schriften im Kontext der Identitätsphilosophie aufgenommen, die typischerweise auch unter dem Titel Naturphilosophie verhandelt werden können. Wie bereits sein Epikurisch Glaubensbekenntniß vom Herbst 1799 beinhaltet auch die Religionsphilosophie des Identitätssystems eine fundamentale Kritik an der zeitgenössischen Theologie und Religion. Allerdings steht diese Kritik nun im Zeichen einer Begründung der Theologie als Wissenschaft.