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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

988–990

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Raguz, Ivica

Titel/Untertitel:

Sinn für das Gott-Menschliche. Transzendental-theologisches Gespräch zwischen den Ästhetiken von Immanuel Kant und Hans Urs von Balthasar.

Verlag:

Würzburg: Echter 2003. 546 S. gr.8 = Bonner Dogmatische Studien, 36. Kart. Euro 32,80. ISBN 3-429-02524-9.

Rezensent:

Michael Roth

Das Interesse der Dissertationsschrift von Ivica Raguz, die die ästhetischen Konzeptionen von Immanuel Kant und Hans Urs von Balthasar untersucht und miteinander ins Gespräch bringen möchte, ist vielfältig: Erstens möchte die Arbeit als Anregung dienen zur weiteren Forschung an Kants Kritik der Urteilskraft innerhalb der Philosophie und Theologie. Zweitens soll die Arbeit Impulse liefern zu einer Auseinandersetzung mit Balthasars theologischer Ästhetik, die dieser selbst als Denkform seiner ganzen Theologie bezeichnet, die nach Meinung R.s aber in der bisherigen Forschung nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden ist. Drittens will die Arbeit zur kritischen Wiederaufnahme der kantschen Ästhetik in die Religionsphilosophie und die Theologie (insbesondere die Fundamentaltheologie) anleiten. Schließlich will die Arbeit viertens grundsätzlich die Bedeutung der Ästhetik für die Theologie markieren (vgl. 25 f.).

Der Anspruch der Arbeit wie das hohe Pensum, das R. sich vorgenommen hat, überraschen; denn beide verlangen nicht nur die Analyse zweier großer Konzeptionen, sondern darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen religionsphilosophischen und der ästhetischen Theoriebildung. Man ist gespannt, ob und wie es R. gelingt, seinen Anspruch und sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Der erste von drei Hauptteilen (27-309) setzt sich mit Kants Ästhetik auseinander, die dieser in der "Kritik der reinen Urteilskraft" entwickelt hat. Dabei soll gezeigt werden, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft "eine Theorie [entfaltet], in der der Mensch über sich selbst und die Welt reflektiert und dabei sich selbst und die Welt als sinnvoll erfährt" (19). R. beansprucht damit aufzuweisen, dass Kants Ästhetik über den Dualismus von naturgesetzlicher Notwendigkeit und menschlicher Freiheit, bei dem Kants erste beiden Kritiken stehen bleiben müssen, hinauskommt und damit Sinn und Hoffnung für das Diesseits gibt, die den Menschen allererst zum Handeln in der Welt befähigen. Dabei geht R. so vor, dass er in einem ersten Kapitel den "Sinn für das Gott-Menschliche" in Kants Untersuchung zur ästhetischen Urteilskraft entwickelt (28-180). Hier wird der Blick auf Kants Verständnis des Schönen (29-98) und des Erhabenen gelenkt (98- 180), um zu zeigen, was nach Kant Hoffnung und Sinn für den Menschen und das menschliche Handeln bedeuten.

So zeigt R., dass sich nach Kant in der Erfahrung des Schönen der Mensch eins mit der Natur fühlt und die Ganzheit der Welt in der Harmonie mit sich selbst spürt; dass im Gefühl der Erhabenheit sich der Mensch trotz der Hindernisse der Natur mit dem moralischen Gesetz begnadigt fühlt. In einem zweiten Kapitel ermittelt R. den "Sinn für das Gott-Menschliche" in Kants teleologischer Urteilskraft (181-267). R. arbeitet heraus, dass Kant aufzuweisen versucht, wie sich die Natur auf die moralische Freiheit hin entwickelt und selbst organisiert. Weil der Mensch sich über die Natur und die Geschichte reflektierend von der Notwendigkeit der Gottesidee überzeugen soll, "behandelt Kant sein Theologieverständnis nicht abstrakt und individuell, sondern innerhalb der Teleologie: aus der Physikoteleologie zur Physikotheologie und aus der Ethikoteleologie zur Ethiktheologie" (266 f.). Den Kant-Teil abschließend wird im dritten Kapitel eine Bilanz gezogen (168-309). R. macht hier zum einen noch einmal aufmerksam auf die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für Kants Verständnis der Religion, zum andern erörtert er, inwiefern Kants Hoffnungstheologie aus einem "als-ob" nicht hinauskommt, weil sie den Sinn für den Menschen nicht mehr im Sein oder in Gott, sondern durch das Subjekt begründet, so dass die Sinnhaftigkeit nicht mehr den Gegenstand bezeichnet, sondern nur das Urteil über einen Gegenstand. Im Blick auf den Kant-Teil der Arbeit ist festzustellen, dass R. kleinschrittig referiert, statt zu interpretieren. Die Darstellung löst sich wenig vom Text und vermag es dadurch nicht, Hauptgesichtspunkte herauszuarbeiten und Argumentationsstrukturen zu verdeutlichen.

Der zweite Hautteil (310-463) setzt sich mit Balthasars Ästhetik auseinander, die als Denkform seiner ganzen Theologie interpretiert wird: "Balthasar geht als christlicher Theologe davon aus, daß Gott in Jesus Christus sein letztes Wort über den Sinn für das Menschliche und das Göttliche gesagt hat" (21). Der Ästhetik falle bei Balthasar dabei die Aufgabe der Vermittlung zu, insofern für Balthasar die Ästhetik der Ort ist, "der auf Gottes Herrlichkeit angemessen verweisen kann". Auch der Teil über Balthasar gliedert sich in drei Kapitel: In einem ersten Kapitel setzt sich R. mit Balthasars Interpretation der Philosophie und der Ästhetik Immanuel Kants auseinander (313-361). Im Durchgang durch die Schriften Balthasars verdeutlicht R., dass Balthasar zwar ein "hervorragender Kenner der kantischen Philosophie" (348) ist, dass Kants Philosophie und Ästhetik in Balthasars verschiedenen Kant-Interpretationen jedoch vorwiegend negativ beurteilt werden. Mit seiner Kritik entziehe sich aber Balthasar der Möglichkeiten, die Kants Ästhetik gerade für den postmodernen Menschen biete. Im zweiten Kapitel (362-452) werden die Anliegen von Balthasars transzendental-theologischer Ästhetik herausgearbeitet. R. verdeutlicht, dass bei Balthasar die Offenbarungsgestalt eine absolute Evidenz und den Vorrang vor dem Subjekt besitzt, so dass der Glaube eine radikale Begegnung mit der Erscheinung Jesu Christi ist, in der sich Gott selbst gibt. Im dritten Kapitel (453-463) wird ein Rückblick vorgenommen. R. erläutert, dass anders als bei Kant bei Balthasar das Schöne nicht vom Subjekt her verstanden werde, sondern als Seinseigenschaft selbst. Daher sei "Balthasars Theologie ganz vom Licht (Schöpfungs- und Offenbarungslicht) durchdrungen: Die Würde des Menschen liegt in der Annahme des Geschenkes des göttlichen Lichtes" (454). Für Balthasar erscheine der Glanz Gottes in der Welt evident. "Dies ist für Balthasar so offensichtlich, daß der Mensch mit den richtigen Augen nicht umhin kann, diese Evidenz anzunehmen" (455). Daher habe der Mensch nach Balthasar diese Evidenz "im liebevollen Gehorsam" (463) anzunehmen. In der Darstellung Balthasars kehren die gleichen Schwächen wie in der Darstellung Kants wieder: Zu wenig vermag sich R. vom Text zu lösen, zu wenig werden Hauptgesichtspunkte pointiert und Argumentationsstrukturen aufgezeigt.

Im dritten Hauptteil (464-526) erhebt die Arbeit den Anspruch, mehr als eine bloße "Nebeneinanderstellung" (464) beider untersuchten Konzeptionen zu leisten. "Wir meinen, daß Balthasars transzendental-theologische Ästhetik nur dann für den heutigen Menschen sinnvoll und bedeutsam sein kann, wenn sie sich von der kantischen Ästhetik befruchten lässt" (ebd.). Damit beansprucht R., der theologischen Methode Balthasars verpflichtet zu sein, der selbst die Methode der "klärenden Transposition in der Theologie gefordert hat" (465). In den beiden ersten Kapiteln (467-478.479-485) stellt R. einige kritische Anfragen an Kant und Balthasar. R. unterstreicht, dass Kants Kritik der Urteilskraft die Möglichkeit biete, die Sinnhaftigkeit der Welt und dadurch den Sinn für den Menschen und das menschliche Handeln zu begründen. Andererseits - so R. - könne man in Kants Ästhetik "nie wissen, ob die gnoseologische Sinnhaftigkeit der Welt wirklich die Welt an sich betrifft oder nicht" (474). Demgegenüber sei bei Balthasar der Subjektivität Kants die Objektivität Gottes und seiner Offenbarung entgegengesetzt. Allerdings müsse der Mensch diesen Sinn im Gehorsam annehmen. Demgegenüber gibt R. zu bedenken, dass sich die menschliche Existenz nicht "erschöpft ... im Gehorsam, sondern ... auch durch das Suchen, die Fragen, die Entwicklungen, die Momente des freien Als-ob geprägt [wird]" (484 f.). Im abschließenden dritten Kapitel (486-526) will R. mit Hilfe der Einsichten Kants Balthasars transzendentale Ästhetik aus der Enge des Objektivismus befreien. Besagt für Kant die Erfahrung des Schönen nur ein Urteil über das Schöne und betrifft nie das Sein oder den Gegenstand, so hält R. ihm kurzerhand entgegen, dass "die Erfahrung der Sinnhaftigkeit oder des Sinnes für das Menschliche ... am Sein nicht vorbeigehen [kann]" (496). "Je mehr der Mensch in der ästhetischen Erfahrung über sich selbst frei-erkennend verfügt und sich dabei sinnvoll erfährt, desto mehr wird auch das Sein sinnvoller und freier" (497). Mit diesem Gedanken soll eine transzendentale Ästhetik begründet werden, die eine andere Möglichkeit der Begründung der Religionsphilosophie anbietet.

R. beansprucht, "Umrisse der theologischen Ästhetik" (505- 526) zu skizzieren. Dabei wählt er die "narrative Methode" (506), die zeigt, "wie Jesus Christus die Schönheits- und Erhabenheitserfahrung gemacht hat und was sie für den heutigen Menschen bedeuten kann" (506). Dies tut R., indem er aus der biblischen Überlieferung Worte Jesu herausgreift und hierzu Gedanken assoziiert. Gerade im Schlussteil machen sich die Schwächen der Analyse der Konzeptionen von Kant und Balthasar bemerkbar: Zu sehr verweilt der Vergleich zwischen Balthasar und Kant an der Oberfläche und gibt sich mit schlagwortartigen Lösungen zufrieden. Dass R. von diesen Ergebnissen her keinen wirklichen Beitrag zur religionsphilosophischen und ästhetischen Theoriebildung zu leisten vermag, dürfte klar sein. Fazit: Eine inhaltliche Beschränkung der Arbeit wäre dringend erforderlich gewesen.