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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

986–988

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hattrup, Dieter

Titel/Untertitel:

Carl Friedrich von Weizsäcker. Physiker und Philosoph.

Verlag:

Darmstadt: Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. 272 S. 8. Geb. Euro 29,90. ISBN 3-89678-506-0.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Über Jahrzehnte war Weizsäcker im deutschen Sprachraum der Philosoph, der sich um die Vermittlung von Naturwissenschaft und Religion bemühte. Auf Grund eines unstreitigen Charismas begeisterte er ein größeres Publikum, während ihm die Fachwissenschaft reserviert gegenüberstand. Die Ursache lag in der Art, wie er diesen Gegensatz vermittelte.

Zum einen bevorzugte er eine idealistische Physikdeutung, indem er den Informationsbegriff zu einem physikalischen Grundbegriff erklärte und die Subjektabhängigkeit des Messprozesses in der Quantentheorie als Beweis dafür ansah, dass das transzendentale Subjekt Kants nun eine immanente Angelegenheit der Physik geworden sei. Aus all dem leitete er eine monistische Geistontologie ab, die kontinuierlich in eine ostasiatisch getönte Mystik überging. Gegenüber dem philosophischen Schulbetrieb war er abweisend, weil er ihn für oberflächlich hielt. Er bevorzugte tiefe, der Schau fähige Geister von Platon bis Heidegger.

Dass ein solcher Ansatz in den diversen Fachwissenschaften wenig Anklang finden würde, war zu erwarten. Die Mehrzahl der Physiker lehnte seine idealistische Physikdeutung ab, während die Philosophen nichts mit seinem elitären Philosophiebegriff anfangen konnten. Die Theologen wähnten, dass ein solcher pantheistischer Geistmonismus nicht tauglich sei, Heilsgeschichte zu begreifen. Im Prinzip waren es nur wenige Schüler Weizsäckers, die seine Sache vorantrieben. Es ist kein Zufall, dass in dem wohl bedeutendsten Werk zum Thema "Wissenschaft und Glaube" von Jan Barbour der Name Weizsäcker nirgends vorkommt. Nun hindert nichts, dass Weizsäcker trotz Schwerverdaulichkeit seiner Prinzipien im Einzelnen bedeutende Einsichten zu Tage gefördert hat, die kritisch zu erheben und darzustellen eine dankbare Aufgabe wäre. So etwas könnte man von dem neuen Buch von Dieter Hattrup erwarten. Die Enttäuschung nach der Lektüre ist allerdings groß. H. reiht sich ein in die Serie der willen- und kritiklosen Anbeter Weizsäckers.

Zunächst einmal fällt in seinem Buch der servile, salbungsvolle Ton auf. Gleich im Vorwort heißt es von Weizsäcker: "Er hat das große Tor aufgetan - oder er ist das große Tor, durch das ich gehen konnte." So etwas hat man sonst nur von Jesus behauptet. Überhaupt werden in diesem Buch nur absolute Geistesgrößen erwähnt, wozu z. B. Hegel nicht gehört, denn während Sokrates wusste, dass er nichts wusste, habe Hegel ein System des Wissens aufgestellt. Er sei daher nur ein "sogenannter Philosoph", der näheren Beschäftigung nicht wert (105 f.). Noch schlechter kommen die Wissenschaftstheoretiker weg: "Leute wie Popper, Carnap oder Kuhn waren einfach zu formal" (68), also auch nicht näher zu berücksichtigen. Hingegen gilt: "Philosophie ist eine Berufung zum Sehen" (128), die der religiösen Schau nahe kommt: "Die Vernunft ist eine Art von Offenbarung" (10).

Angesichts dessen muss man es mit den Fakten dann nicht mehr so ernst nehmen. Haarsträubend ist denn auch, was H. über Kant sagt: So sei Kant "zu klug" gewesen, um "die theoretische Tragweite der Wissenschaft" festzulegen - was ist dann der Inhalt der "Kritik der reinen Vernunft"? Die nachkantischen Idealisten hätten fälschlich gelehrt, dass das "Ich denke" alle Vorstellungen begleiten müsse - genau das steht aber bei Kant selbst (22)!

"Theorie und Technik" seien wie "zwei spitz zulaufende Eiffeltürme, welche die Trennung von Subjekt und Objekt symbolisieren" (147). Später werden die beiden "einsamen" Eiffeltürme Theorie und Praxis genannt, die Kant in der Kritik der Urteilskraft durch Kunst, Organismus und Religion habe überbrücken wollen (150). Wenn H.s "einsame" Eiffeltürme für Theorie und Technik stehen, können sie nicht zugleich für Theorie und Praxis stehen, denn Praxis ist bei Kant = ethische Praxis.

Es scheint, dass sich H. noch nicht einmal die Mühe gemacht hat, im Inhaltsverzeichnis der Kritik der Urteilskraft zu blättern, sonst hätte er bemerkt, dass dort von Religion nicht die Rede ist. Und hätte er sich einmal die religionsphilosophischen Schriften Kants angesehen, dann hätte er bemerkt, dass sie nirgends das Theorie-Praxis-Problem behandeln.

Im Falle Weizsäckers ist es kaum möglich, seinen Ansatz ohne gründliche philosophische Kenntnisse darzustellen, gleichwohl fragt man sich bei der Lektüre dieses Buches, ob man es nicht rein immanent lesen sollte, um von diesen Defiziten zu abstrahieren. Aber das geht auch nicht, weil ein weiteres Problem hinzukommt: H. möchte gerne seine eigene Grundüberzeugung beim Meister wiederfinden und, weil sie dort nicht vorkommt, biegt er zurecht oder verschweigt. - Er selbst vertritt eine ganz traditionelle theologische Grundauffassung. Ihm liegt daran, dass man zwischen Natur und Übernatur bzw. zwischen Vernunft und Glaube klar unterscheidet. Sieht das Weizsäcker auch so?

"Nicht der Besitz von Wahrheit, aber die Suche nach ihr!" (10) Das sei das Wichtige, betont H. immer wieder. Nun ist es aber so, dass Weizsäcker über Jahrzehnte das Hegelsche Programm einer "Substanz als Subjekt" innerhalb der Quantentheorie verfolgte. Weizsäcker versuchte, die Quantentheorie so zu reformulieren, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit einer jeden Erfahrung enthalten würde, d. h. er verfolgt ein Letztbegründungsprogramm. Diese Bedingungen will er dann über Kant hinausgehend als Platonische Ideen verstehen, so dass alles der Substanz nach Information = Idee wird.

Weil dieses Programm in H.s Theologie nicht hineinpasst, erwähnt er es erst gar nicht. Er verteidigt Weizsäcker gegen den Vorwurf des Monismus: "Erst die Einheit der Wirklichkeit würde Monismus sein, zusammen mit der Behauptung, diese Wirklichkeit könne vollständig erkannt werden." (61) Aber das ist mit Sicherheit falsch, denn von Plotin bis Fichte gab es viele Philosophen, die zugleich am Monismus und an der Begrenztheit des Erkennens festhielten.

Gravierender ist ein Weiteres: H. spricht in seinem Buch beständig von der Gnade. Kann sie in einem monistischen System überhaupt eine Rolle spielen? Weizsäcker hat jederzeit die Sonderstellung des Christentums bestritten. Seine Spiritualität ist buddhistisch geprägt. Er berichtet von einem Erlebnis der Erleuchtung und Entwerdung, das er in Indien hatte. Für ein solches Erlebnis spielen Offenbarung, Heilsgeschichte, insbesondere aber die Person Jesu Christi keine Rolle.

H. ist Theologe und Mathematiker, aber auch in seinen eigenen Disziplinen scheint er sich nicht gut auszukennen. Auf S. 226 wird Karl Rahner in einem Atemzug mit Karl Barth genannt, die beide ihre Theologie komplett jenseits der Naturwissenschaft angesiedelt hätten. Wieso enthält dann der Band 15 der neuen Rahner-Gesamtausgabe 800 Seiten Schriften, die der Vermittlung dieser beiden Bereiche dienen?

Immer wieder betont H., dass die Heisenbergsche Unschärferelation die Offenheit der Zukunft beinhalte. Auf S. 57 weiß er es plötzlich besser: Beides hat überhaupt nichts miteinander zu tun! Solche Ungereimtheiten enthält das Buch in Menge.

Frömmigkeit ist ein hohes Gut. Wissenschaftlichen Fleiß und Akribie kann sie allerdings nicht ersetzen.