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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

980–982

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Steigmann-Gall, Richard

Titel/Untertitel:

The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity, 1919-1945.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2003. XVI, 294 S. m. Abb. gr.8. Geb. £ 25,00. ISBN 0-521-82371-4.

Rezensent:

Björn Biester

Richard Steigmann-Gall vertritt in seinem aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation an der Universität Toronto hervorgegangenen Buch folgende These: Nationalsozialisten der mittleren und oberen Führungsebene haben die Bewegung keineswegs als anti-christlich verstanden. Im Gegenteil, der Nationalsozialismus sei in Teilen als ein christlich fundierter Versuch zu werten, Gott gegen die säkularisierte Gesellschaft zu bewahren (12: "... for many of its leaders, Nazism was not the result of a Death of God in secularized society, but rather a radicalized and singularly horrific attempt to preserve God against secularized society"; Hervorhebung im Original). Der Hintergrund dieser Bestrebungen finde sich, so der Vf., in den Kriegspredigten von 1914, in denen von den Kanzeln die Allianz Gottes mit Deutschland verkündet wurde - was später auf eine harsche Realität stieß. Die Annäherung der NSDAP an die Kirchen sei daher auch nicht ausschließlich von taktischen Überlegungen bestimmt gewesen, um Akzeptanz und Wählbarkeit der Partei zu erhöhen, sondern ein genuiner Beitrag zur Bewältigung der Glaubenskrise nach dem Ersten Weltkrieg.

Das Buch, das sich gegen die von den meisten Historikern vertretene Meinung wendet, Nationalsozialismus und Christentum seien einander entgegengesetzt gewesen oder aber der Nationalsozialismus eine areligiöse Bewegung, untersucht das Thema auf den Feldern text (Kapitel 1-3) und action (Kapitel 4 -7). Berücksichtigung finden Reden, Pamphlete und Briefe, aber auch sozialpolitische Auswirkungen in Bereichen wie Eugenik, Frauen, Jugend (Kapitel 6). Das Schlüsselargument des Vf.s ist das Parteiprogramm der NSDAP von 1920. Punkt 24 dieses Programms spricht vom "Standpunkt eines positiven Christentums", welchen die NSDAP vertrete, jedoch "ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden". Die Partei bekämpfe, heißt es weiter, den "jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns". Des Vf.s erstes Kapitel analysiert diese Begrifflichkeit anhand von Äußerungen verschiedener Parteiführer (Hanns Kerrl, Wilhelm Kube, Hans Schemm und andere), die sich als Nationalsozialisten und Christen zu erkennen gaben, ja oft eine christliche Begründung für ihre politische Agenda suchten. Die Motive wiederholen sich: Jesus als "Arier" und "Kämpfer", das Alte Testament als wertlos und "verjudet", die Notwendigkeit, das deutsche Volk von zerstörerischen bolschewistischen Einflüssen zu befreien. Elemente solchen aggressiven, christlich verbrämten dualistischen Denkens erreichten über Dietrich Eckart auch Adolf Hitler, der in "Mein Kampf" bekannte, wie viel er Eckart verdankte. Als weiteres Beispiel wird Alfred Rosenbergs "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" präsentiert, das sich bei genauerer Hinsicht als uneindeutig in seiner Verurteilung des Christentums erweist, da Rosenberg zum Beispiel Meister Eckhart und selbst Jesus Christus viel Positives abgewinnen konnte (Kapitel 3).

Der Vf. zeigt, dass von der im NSDAP-Programm behaupteten konfessionellen Neutralität keine Rede sein kann; es gab eine klare Protestantismus-Ausrichtung des "positiven Christentums". Martin Luther galt, wie in der nationalen Geschichtsschreibung des Kaiserreichs, als "deutscher Held" schlechthin. Für Alfred Bäumler und andere stellte die Reformation des 16.Jh.s die Befreiung von römischer Theokratie dar, die es zu vollenden gelte. Der zeitgenössische politische Katholizismus wurde als Hauptfeind einer kirchlichen Strukturerneuerung unter germanischen Vorzeichen identifiziert. Jesuiten und Freimaurer beschimpfte man oft in einem Atemzug. Erst ab 1937 wurde die Einstellung der Machthaber gegenüber den christlichen Kirchen fast durchweg feindlich, was der Vf. auf die Enttäuschung kirchenpolitischer Reformideen - die Etablierung einer protestantischen "Reichskirche" - zurückführt (Kapitel 7). Trotzdem blieben Hitlers Aussagen zum Christentum bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ambivalent (252-259).

Das Schlusskapitel (Kapitel 8) fasst die Ergebnisse der Untersuchung prägnant zusammen: "Christianity, in the final analysis, did not constitute a barrier to Nazism. Quite the opposite: For many of the subjects of this study, the battles waged against Germany's enemies constituted a war in the name of Christianity" (261). Dass es sich aber bei den angeführten Äußerungen tatsächlich um den Ausdruck zusammenhängender Vorstellungen handelt und nicht um bloße Beimischungen zur kruden Ideologie von Volk, Rasse, deutscher Sendung und blankem Judenhass, kann der Vf. nicht durchgehend glaubhaft machen. Oft werden festgestellte Widersprüche, die der Ausgangsthese im Weg stehen, mit dem Hinweis auf die Polykratie innerhalb der NSDAP und die Ambivalenz der Quellen geglättet. Es gibt diese Uneindeutigkeit, daran besteht kein Zweifel, aber lassen sich daraus wirklich so weit reichende Folgerungen ableiten? An einer Stelle der Einleitung wird als bescheideneres Ziel formuliert, nicht die bisherigen Deutungen des "Dritten Reichs" zu erledigen, sondern eine neue Facette hinzuzufügen (12). Damit schränkt der Vf. selbst die Reichweite seiner Analyse wesentlich ein.

Der Vf. gibt seinem Buch einen über den Untersuchungszeitraum hinausreichenden theologie- und ideengeschichtlichen Rahmen. Als ein Beleg für die - sehr knapp begründete - Behauptung, von Ritschl, Rothe, Rade, Wellhausen und Harnack und deren Ansichten über Juden und praktisch-ethisches, undogmatisches Christentum gebe es eine gedankliche Linie zum "Dritten Reich" (gemeint als Herkunftsangabe bestimmter theologischer Grundmotive), werden beispielsweise Harnacks Marcion-Monographie von 1921 (wiederholt falsch auf 1920 datiert) und seine Bekanntschaft mit Houston Stewart Chamberlain angeführt. Harnack avanciert so für den Vf. zum Kronzeugen antisemitisch-völkischer Autoren wie Friedrich Andersen und Herbert Grabert, jedoch schwerlich zu Recht. Dass Harnacks Beurteilung des Alten Testaments sich mit nationalsozialistischen Vorstellungen decke (41: "overlapped completely with Nazi attitudes"), ist eine grobe Verzerrung. Nicht nur ein jüngst von Friedemann Steck in der Edition der Harnackschen Marcion-Preisschrift von 1870 (Berlin-New York 2003; TU 149) wiedergegebenes Vortragskonzept von 1923, in dem Harnack sich gegen ein Missverständnis seiner Marcion-Sicht ausspricht ("Ich werfe n[icht] das A.T. heraus."), weist in eine ganz andere Richtung.

Der Vf. übernimmt hier eine aus den Auseinandersetzungen der Weimarer Republik und des Kirchenkampfes stammende Polemik, die eine ganze Epoche neuprotestantischer Theologie und Bibelkritik mit einem Streich disqualifiziert. Aus dem Blick gerät dabei, dass gerade liberale Theologen wie Harnack sich für die parlamentarische Demokratie einsetzten und durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste mentale und gesellschaftliche Erschütterungen zu bewältigen suchten, im Gegensatz etwa zu Paul Althaus und Emanuel Hirsch, die ebenfalls erwähnt werden. Diese Beobachtung lässt allerdings den vom Vf. geschlagenen Bogen von den Predigten des Ersten Weltkriegs zu den anti-säkularisierenden, "christlichen" Absichten der Nationalsozialisten und ihren kulturprotestantischen Querverbindungen nicht plausibler erscheinen.