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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

977 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Nützenadel, Alexander, u. Wolfgang Schieder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 349 S. gr.8 = Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 20. Kart. Euro 22,90. ISBN 3-525-36420-2.

Rezensent:

Martin Greschat

Nimmt man die historischen Veröffentlichungen eines Jahres in Deutschland zusammen, entfällt mehr als die Hälfte davon auf Themen der Zeitgeschichte. In anderen europäischen Ländern dominiert die jüngste Geschichte nicht in demselben Ausmaß. Aber eine beachtliche Rolle spielt sie überall, insbesondere seit der "Wende" 1989/90. Über die jeweils spezifische nationale Eigenart dieser Forschungen sowie die Vielfalt der behandelten Themen informiert anregend und kenntnisreich der vorliegende Sammelband.

Er umfasst 13 Beiträge über Arbeiten zur Zeitgeschichte: Bundesrepublik (Martin H. Geyer, 25-53), Österreich (Ernst Hanisch, 54-77), Spanien (Walther L. Bernecker und Sören Brinkmann, 78-106), Italien (Lutz Klinkhammer, 107-127), Großbritannien (Detlev Mares, 128-148), Schweiz (Christof Dipper, 149-174), Frankreich (Rainer Hudemann, 175-200), die Niederlande (Christoph Strupp, 201-224), Sowjetunion (Stefan Plaggenborg, 225-256), DDR (Martin Sabrow, 257- 282), Ungarn (Arpad v. Klimo, 283-306), Tschechien (Martin Schulze Wessel, 307-328) sowie Polen (Rafal Stobiecki, 329- 346). Untergliedert sind die Artikel in drei Gruppen: die "postfaschistischen Demokratien", die "alten Demokratien Westeuropas" sowie die "Länder des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs". Bedauerlich ist, dass der Norden Europas, Skandinavien und Finnland, fehlt.

Der Band belegt, dass von einer "europäischen Zeitgeschichte" nicht die Rede sein kann. Allzu gravierend sind die Unterschiede, und man mag bezweifeln, ob sie sich auf Grund weiterer "intensiver wissenschaftlicher Debatten" so bald beheben lassen (24). Trotzdem sind interessante Gemeinsamkeiten erkennbar, allerdings primär formaler Natur. Dazu gehört, dass durchweg nationale Traumata des 20. Jh.s die wissenschaftliche Erforschung der Zeitgeschichte vorangetrieben haben. Das gilt natürlich vor allem für die "postfaschistischen Demokratien", aber - wenn auch in eigener Weise - für die alten Demokratien Frankreich, Großbritannien und die Schweiz. Sodann wird einmal mehr deutlich, dass von einer kritischen Geschichtswissenschaft in den Ländern des ehemaligen Ostblocks vor 1990 nicht die Rede sein kann. Die danach rasch aufblühende Zeitgeschichte sieht sich allerdings mit dem Faktum konfrontiert, dass die Ergebnisse der Wissenschaft da, wo sie dem kollektiven historisch-politischen Gedächtnis widersprechen, zunächst noch ziemlich wirkungslos bleiben. Diese Feststellung gilt aber durchaus auch für "westliche" Länder und offenkundig gerade für kleine Staaten wie Österreich, die Niederlande und die Schweiz.

Wesentlich ist sodann der Hinweis auf die Bedeutung von Filmen, des Fernsehens sowie insbesondere der Literatur für die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. Diese Medien haben in manchen Ländern das Geschichtsbild erheblich stärker als die Wissenschaft geprägt. Das trifft nicht nur für den Osten zu, sondern ebenso z. B. für Frankreich, Spanien oder Österreich.

Nur ganz am Rande kommt in einigen Beiträgen die Bedeutung der Kirchen für die Zeitgeschichte zur Sprache. Kaum zufällig ist das in den Berichten über die Sowjetunion, Tschechien und Polen der Fall. Das ist mehr als bedauerlich. Es trägt allerdings wenig aus, diesen Sachverhalt nur zu beklagen. Wichtiger wäre es, den im Wesen des Christentums liegenden übernationalen Blickwinkel in der Erforschung der Zeitgeschichte seitens der Kirchengeschichte tatsächlich anschaulich zu dokumentieren.