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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

500–502

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Klein, Gotthard

Titel/Untertitel:

Der Volksverein für das katholischeDeutschland 1890-1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1996. 597 S. gr.8 = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, 75. Lw. DM 98,-. ISBN 3-506-79980-0.

Rezensent:

Ewald Frie

Als herausragende Gesamtorganisation des deutschen Laienkatholizismus während des Wilhelminischen Reiches ist der Volksverein für das Katholische Deutschland in die Geschichte eingegangen. Er besaß großen Einfluß in der Sozialpolitik, schulte eine ganze Reihe herausragender Exponenten des politischen Katholizismus, ersetzte den organisatorischen Unterbau der Zentrumspartei. Nach Weltkrieg, Revolution und Etablierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates in Deutschland verloren seine früheren Funktionen schnell an Bedeutung. Es verblieb - so Wilfried Loth unlängst - ein "Koloß auf tönernen Füßen", der "in eine lang anhaltende Agonie" verfiel. Die Auflösung des Verbandes durch die Nationalsozialisten 1933 war in dieser Perspektive nicht mehr als ein Gnadenstoß. Lohnt es sich, ein Buch über einen dahinsiechenden Anachronismus zu schreiben?

Nicht nur Erfolge sind geschichtsmächtig. Gotthard Klein geht es in seiner überarbeiteten Eichstätter Dissertation gerade darum, "dieses zwielichtige Ende unter angemessener Berücksichtigung seiner Vor- und Nachgeschichte zu rekonstruieren, eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen für den Untergang des Volksvereins zu suchen" (21). Denn der Niedergang des Volksvereins verlief parallel zur allmählichen Auszehrung des politischen Katholizismus, die ihrerseits Teil einer Verschiebung innerhalb des Parteienspektrums der Weimarer Republik insgesamt war, das auf weltanschaulich gebundenen Milieus fußte. Dementsprechend nimmt die Hochzeit des Kaiserreichs nicht einmal 40 Seiten des Buches ein. Zwei Drittel behandeln die Jahre nach der scheinbaren Konsolidierung der Weimarer Republik 1924. Die durch Diktatur- und Kriegseinwirkungen weit verstreuten Quellen und Nachlässe haben eine umfangreiche Spurensuche nötig werden lassen: K. hat 33 verschiedene Archive besucht. Sein Literaturverzeichnis füllt 70 Seiten. Der umfangreiche Anmerkungsapparat spiegelt die Akribie des Autors - allein knapp 300 Kurzbiographien sind darin enthalten, die - neben vielem anderen - über ein umfangreiches Personen-, Orts- und Sachregister erschlossen werden können. Wer in Zukunft über den Katholizismus der Weimarer Republik arbeiten will, wird K.s Mühen als willkommene Vorarbeiten begrüßen.

Was aber wird er über den Untergang des Volksvereins lernen? K. vermag natürlich die Agoniethese nicht zu widerlegen. Zu deutlich sind die Zahlen, die einen Mitgliederschwund von 805.909 (1914) über 695.765 (1921) und 487.176 (1926) auf 330.017 (1932) anzeigen (vgl. 420-427). Aber die zum Ende der Weimarer Republik hin immer dichter werdende Darstellung "von der Ebene der Verbandsspitze aus" (22) gewichtet manches anders als die bisherige Forschung.

Zunächst erschien "die Ausgangsposition für die Arbeit des Volksvereins in der neuen Republik von Weimar ... besonders günstig" (86). Der sozialpolitische Forderungskatalog der Vorkriegszeit wurde erfüllt, die Hemmnisse des protestantisch dominierten Obrigkeitsstaates fielen, viele ehemalige ,Zöglinge’ des Volksvereins rückten in politische und bürokratische Führungspositionen ein. Doch eben dieser Erfolg führte zur Krise. Welche Vision sollte die Mitgliedschaft in wirtschaftlich schwierigen Zeiten noch einen und motivieren, zumal sich immer mehr katholische Spezialorganisationen auf den Arbeitsfeldern des ehedem umfassenden Massenvereins zu tummeln begannen (vgl. 93-138)? Wie sollte die Schere zwischen den finanziellen Anforderungen einer in Bürokratisierungs- und Professionalisierungsnotwendigkeiten stehenden Verbandsstruktur und den stetig zurückgehenden Mitgliedsbeiträgen geschlossen werden? Zwei Antworten wurden in der Verbandsspitze entwickelt. Beide hält K. für fatal.

Inhaltlich stellte sich der Volksverein Mitte der 20er Jahre unter das "neue Leitbild der Volksgemeinschaft" (139). Die sozialpolitische und staatsbürgerliche Bildung - Herzstück der Vorkriegsarbeit - trat hinter eine Art "Gesinnungsreform" (147) zurück, die mit einer neuartigen Führerschulung verbunden wurde. Damit aber verfehlten - so K. - die für den Kurswechsel Verantwortlichen - August Pieper und Anton Heinen - die Bedürfnisse der Mitgliedschaft. Alte Weggefährten wie der katholische Priester und gestandene Arbeiterfunktionär Otto Müller sprachen abschätzig von "Gesinnungsgerede" und "Gemeinschaftsquatsch" (152). In wirtschaftlicher Hinsicht stellte der von seinen Vorstandskollegen kaum kontrollierte Generaldirektor Wilhelm Hohn die Weichen neu (vgl. 157-212). Um die drängenden Finanzprobleme zu lösen, ließ er sich auf immer gewagtere Finanzoperationen ein. 1928 kollabierte der Volksvereins-Verlag. Hohn wurde zwar entlassen, doch der Vertrauensverlust war beträchtlich.

Was nun folgte, nennt Klein treffend "Retardation" (213-295). Durch organisatorische Debatten im Rahmen der inhaltlich weitgehend unbestimmt bleibenden "Katholischen Aktion", durch Verstärkung der apologetischen Tätigkeit und durch die Entwicklung sozialpolitischer Visionen rund um die Enzyklika "Quadragesimo anno" ließ sich der Niedergang zwar verzögern, nicht aber stoppen. Vereinsinterne Querelen verstärken den Eindruck einer zunehmend mit sich selbst beschäftigten, dem politischen Tagesgeschäft entrückten Organisation. "Überhaupt stehen alle gegen alle", schrieb ein jüngerer Mitarbeiter Ende 1932. "Aber es geht nichts endgültig kaput[t], wie auch nichts endgültig entschieden wird, denn inzwischen zahlen immer noch einige Leute auf das entsprechende Postscheckkonto soviel ein, daß der Tagesbedarf einschließlich der Unkosten für gegenseitige Hetze gedeckt wird." (299) Dieser Verein war für den sich etablierenden Nationalsozialismus kein ernsthafter Gegner mehr (vgl. 297-386), wenngleich der Versuch, mittels zweier propagandistisch groß aufgezogener Volksvereinsprozesse den politischen Katholizismus insgesamt zu diskreditieren, mangels Belastungsmaterials scheiterte.

K. hat mit seiner Darstellung das geleistet, was im Rahmen einer eng definierten institutionen- und politikzentrierten Darstellung möglich ist. Einen sozial- oder mentalitätsgeschichtlichen Zugriff, oder auch nur die Einordnung "in den gesamtgesellschaftlichen Kontext der Zeit sowie die Rückwirkungen des innerkirchlichen Strukturwandels auf den Organisationskatholizismus" (22) schließt er einleitend wegen zu großer Quellen- und Literaturdefizite aus. Leitbegriffe der katholizismusgeschichtlichen Debatten der letzten Jahre, wie "Milieu", "Generation" oder ähnliches, sucht man daher vergebens. Das begrenzt den Ertrag einer Arbeit, die jedoch wegen ihrer Dichte und ihres Materialreichtums unverzichtbar für die Katholizismusgeschichte der 20er und frühen 30er Jahre sein wird.