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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

973–975

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Langer, Otto

Titel/Untertitel:

Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung - Stationen eines Konflikts.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. 416 S. gr.8. Geb. Euro 49,90. ISBN 3-534-04527-0.

Rezensent:

Volker Leppin

So kurz nach der vierbändigen Geschichte der abendländischen Mystik von Kurt Ruh (1990-1999) einen neuen Gesamtentwurf der mittelalterlichen Mystik vorzulegen, ist ein Wagnis. Otto Langer, wie Ruh als Eckhart-Experte ausgewiesen, kann es eingehen, gerade weil er einen ganz anderen Ansatz als Ruh wählt. Dieses Werk will kein umfassendes Handbuch sein, sondern eine These etablieren. Grundgedanke ist, dass Mystik sich verstehen lasse aus dem Gegenüber von Erlösungsreligion und Welt, das sich für L. als "Konnex von Rationalisierung und Mystik" (45) verdichtet und in dieser Form die Gliederung bestimmt.

Den Anfang macht ein umfassendes Kapitel über die antike Mystik, das, bei Plato und den Mysterienkulten einsetzend, die pagane Antike nach der Typologie Hans Urs von Balthasars einer an der theoria orientierten "Aufstiegsmystik" zuordnet, die christlich-biblische Mystik hingegen, in Kenntnis der Probleme beginnend bei Paulus, einer "Abstiegsmystik". In der Patristik steht neben einer bei Origenes aufgezeigten Identifikation der platonischen Aufstiegsmystik als genuin christlich (87) auch die vor allem an Augustin aufgewiesene Haltung einer an Abstiegsvorstellungen orientierten (101) Betonung der Gnadenhaftigkeit allen Heilsgeschehens; durch die Verortung der Möglichkeit einer Gottesschau in der trinitarischen vestigium-Struktur der Seele sieht L. als entscheidende Folge Augustins für die spätere Mystik die Wendung der Schauvorstellungen nach innen (104). Etwas blasser ist die Deutung des Ps.-Dionysios, für den insbesondere die Verbindung von neuplatonischer theoria-Philosophie und Feier des christlichen Mysteriums in der Liturgie herausgestellt wird.

Das frühe Mittelalter sieht L. geprägt durch die breite artes-Rezeption und eine damit verbundene Rationalisierungstendenz, deren problematische Folgen für die Theologie sich im Abendmahls- wie im Prädestinationsstreit zeigen. L. deutet diese Konflikte einlinig auf der Matrix des Gegenübers von Glaubens-Traditionalismus und Rationalisierung und schiebt die Frage nach dem darin enthaltenen Ringen um patristisches Erbe rasch in den Hintergrund (124). Rekonstruiert man so und bedenkt, dass Eriugena selbst im Prädestinationsstreit auf Seiten der ratio-Vertreter stand, gewinnt die These Überzeugungskraft, dass seine Beschreibung eines mystischen Prozesses zwischen Schöpfer und Geschöpfen letztlich ein Versuch sei, die entstandenen Spannungen zwischen Glaube und Rationalisierungstendenz zu überwinden.

Den eigentlichen Angelpunkt der Darstellung bilden dann das 11. und 12. Jh., für die L. unter Berufung auf eine Aussage Karl Bosls und passend zu seinem Gesamtkonzept eine "rationale Tendenz" in allen gesellschaftlichen Bereichen konstatieren kann (151). Ihr Ausdruck in der Theologie ist die von der philosophischen Dialektik geprägte Theologie der modernen städtischen Ausbildungszentren, denen in der monastischen, mystisch gefärbten Theologie eine heftige Rationalitätskritik entgegensteht. Diese Ausführungen sind auch insofern ein Schlüssel zu L.s Werk, als sich in ihnen zeigt, dass die von ihm skizzierte Grunddiastase von Rationalisierung und Mystik wenigstens zu Teilen auch eine Reformulierung und Ausweitung der Thesen Jean Leclercq vom Gegenüber scholastischer und mystischer Theologie sind.

Einen großen Gewinn bedeutet dabei allerdings die geistesgeschichtliche Kontextualisierung Bernhards. L. zeichnet in einem hochinteressanten Kapitel die Mystik des Benediktinerordens, namentlich bei dem - etwa in Ruhs Darstellung - zu wenig beachteten Johannes von Fécamp (gest. 1078), nach, der in seinem Brief an eine Nonne lange vor Bernhard ein "kleines Kompendium der Brautmystik" verfasst hat (165). Auch für Rupert von Deutz gewinnt L. in einer eindrucksvollen Argumentation, die von dem autobiographischen Exkurs im elften Buch seines Matthäuskommentars ausgeht, einen Platz in der Geschichte der Mystik zurück (177-184). Die zisterziensische Mystik des 12.Jh.s erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als Intensivierung der benediktinischen Ansätze.

Nachdem bereits für das hohe Mittelalter die Rationalisierung aller Lebensbereiche von entscheidender Bedeutung gewesen war, verschiebt sich im späten Mittelalter nach L. das Gegenüber von Religion und Welt ganz hin zu Fragen der Ökonomie. So ist es dann kein Zufall, dass gerade Beginen und Bettelorden zu Trägern mystischer Theologie werden - und dabei trotz aller Brüche bei den Beginen, für die bei L. paradigmatisch Mechthild von Magdeburg steht, zunächst durchaus den Typus der Brautmystik weiterführen -, gerade diese Entwicklung macht L. vorsichtig, die sexualisierte Metaphorik einlinig als Ausdruck spezifisch weiblicher Religiosität zu verstehen: Der Diskurs, an dem Mechthild partizipiert, ist breiter und thematisiert einen anderen Modus von Geschlechtlichkeit als etwa der gerne zur Interpretation herangezogene psychoanalytische (252). Nicht überall überzeugt die Abweisung anderer Interpretationsstrategien so wie hier. So fragt man sich bei der auf Franz selbst und Bonaventuras "Itinerarium" konzentrierten Darstellung der franziskanischen Mystik, warum der Lebensweg des Letzteren nicht weiter bis zu seinen Auseinandersetzungen mit den konsequenten Aristotelikern verfolgt wird. Auch diese Konstellation könnte zeigen, dass, lässt man sich auf L.s Kategorien ein, die Kritik an Rationalität nicht auf den ökonomischen Sektor beschränkt blieb. Die Darstellung der um materielle und spirituelle Konzeptionen von Armut kreisenden Dominikanermystik schließt das Buch ab.

Dieser Entwurf, der eine Fülle von Material in großer Dichte zu integrieren vermag, ist beeindruckend. Man wird ihn nicht nur auf der Ebene historischer Überprüfung diskutieren können, sondern wird auch über die klare theologische Option zu sprechen haben, die der Germanist L. im Schlusswort mit Habermas als Kronzeugen expliziert: Es gehe vor dem Hintergrund einer Kritik am modernen "Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Rationalität" (15) um "eine wechselseitige Übersetzung der in beiden Traditionen, der religiösen wie der Vernunft-Tradition, enthaltenen humanen Grundlagen" (394). Doch auch wenn man die Verbindung von Mystik und Modernitätskritik so eng nicht ziehen will, ist hier unzweifelhaft ein scharfsinniger Beitrag zum Verständnis der antik-christlichen und mittelalterlichen Mystik entstanden, der sich auch dadurch auszeichnet, dass er sich passagenweise zu einem Blick auf die gesamte Theologie des Mittelalters ausweitet. Man wird ihn nicht ohne Gegenprüfung durch das Standardwerk von Kurt Ruh lesen mögen. Aber umgekehrt gilt auch: Für jeden, der sich mit Ruh über die mittelalterliche Mystik informiert, ist L.s inspirierender Einwurf gut und nützlich zu lesen.