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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

959–961

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Seul, Peter

Titel/Untertitel:

Rettung für alle. Die Romreise des Paulus nach Apg 27,1-28,16.

Verlag:

Berlin: Philo 2003. XIV, 556 S. m. Tab. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 146. Geb. Euro 80,00. ISBN 3-8257-0356-8.

Rezensent:

Michael Labahn

Der letzte große Abschnitt der Apostelgeschichte (Apg 21-28) mit der Verhaftung des Paulus in Jerusalem, dem anschließenden Prozess und seiner Überstellung nach Rom hat unter unterschiedlichen methodischen und historischen Fragestellungen mannigfache Aufmerksamkeit der Forschung erhalten. Während vor allem literar-, religions-, aber auch rechtshistorische Analysen vorherrschen, wählt Peter Seul für seine für den Druck leicht überarbeitete Dissertation von 2002 (Theologische Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar) einen integrativen Zugang, der synchrone und diachrone Arbeitsweisen verbindet: "Sie sind ... zwei komplementäre analytische Arbeitsbereiche" (25). S. konzentriert sich auf die Verbringung des Paulus nach Rom (Apg 27,1-28,16). Die detaillierte Analyse des Abschnitts, ein "Meisterwerk des Schriftstellers, Historikers und Theologen Lukas" (534), ist ein verdienstliches Unternehmen, das in der bedenkenswerten These, dass die Rettung des Paulus die Rettung durch Gott für alle abbildet, ihren Kern hat.

Nach kurzen Einleitungen zu den forschungsgeschichtlichen und methodischen Voraussetzungen beginnt der analytische Teil. Der sprachlichen Analyse von Syntax und Semantik folgen die narrative Interpretation und die pragmatische Erzähltextanalyse. Dem schließt sich ein etwas künstlich überschriebener Abschnitt "Die Analyse des Textes unter historisch-kritischem Aspekt" an, der vor allem aus Gattungsbestimmung, Literarkritik ("Traditionsanalyse" genannt) und Redaktionskritik besteht. Zielpunkt der Analyse ist die Pragmatik der "textexternen Ebenen der Kommunikation".

Die sprachliche Analyse bildet den Hauptteil der Studie mit einer Reihe von illustrativen Einzelbeobachtungen: z. B. Hinweise auf das "Rhodische Seerecht" als Beleg für das Mitspracherecht des Passagiers (60), den Gegensatz von menschlicher und göttlicher bule (61 f.) bei Lukas, die Betonung des Wortfeldes "Retten". Allerdings wäre eine weitergehende Einbettung der Semantik in den zeitgenössischen Sprachschatz zu wünschen- etwa wenn es um die Bedeutungen von kybernetes und naukleros (Reeder, Schiffseigentümer, Kapitän - Seemann) geht, bei denen einiger lexikalischer Klärungsbedarf besteht. Überraschend ist, wie gelegentlich die Textebene argumentativ verlassen wird. So tritt z. B. die Frage nach der textinternen Geographie gegenüber den historisch-geographischen Erwägungen in den Hintergrund. Auch der textexternes seemännisches Spezialwissen aufnehmende Hinweis, dass Paulus das Verhalten der Seeleute missinterpretiert (146), vermischt die Ebenen, da der Erzähler hier eine eindeutige textinterne Interpretation ihres Verhaltens gibt (27,30: Flucht vom Schiff).

Die narrative Analyse verbindet das Modell von Greimas und den Ansatz von Genette. Zu den wichtigen Einzelanalysen gehört die des Phänomens der "Dauer" (vgl. die Tabelle: 299), also der Differenz zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit; hier wird eine inhaltliche Akzentuierung der Schiffbruchgeschichte so herausarbeitet, dass die Exegese terminologisch und sachlich an Schärfe gewinnt. Interessante Einsichten sind aus der Analyse der Erzählperspektive zu gewinnen: S. stellt fest, dass "die Darstellung ... an keiner Stelle aus einer echten Binnenperspektive heraus entworfen" ist (310). Dies bedeutet, dass die narrative Analyse nicht der Hypothese eines Augenzeugen im Wir-Bericht der Apostelgeschichte förderlich ist. S. sieht den Wir-Stil meist als redaktionelles Stilmittel an, das der Vermittlung von "Zuverlässigkeit" dient (354 f.).

Apg 27,1-8 und 28,1 f.10.11-16 werden gattungskritisch als "Reisebericht" zusammengenommen, da in ihnen "nicht erzählt, sondern aufgezählt wird" (337). Der Bericht sei historisch zuverlässig und lasse Paulus im Gegensatz zum lukanisch-geschaffenen Hauptteil 27,9-44 "als freien Mann nach Rom kommen" (356). Aber darf so vom Kontext abstrahiert werden, dass der Zusammenhang der Reisestationen mit der Erzählung, den sie chronologisch gerafft weiter bringen, zerbrochen wird?

Manche der von S. in Anspruch genommenen historischen Widersprüche, die die Freiheit und Privilegien des Paulus betreffen, lösen sich auf, wenn man die gestalterische Absicht des Lukas stärker in Rechnung stellt. S. wertet die Reisestationen in Weiterführung von Dibelius als Itinerar, das im Zusammenhang mit der in Röm 15,22-24.28 geplanten Romreise des Paulus als freier Mann steht (351). Doch dies übersieht die paulinischen Sorgen in Bezug auf die Übergabe der Jerusalemer Kollekte (Röm 15, 30- 32), die sich mit dem Grundgehalt von Apg 21,18 ff. decken, und stellt damit die m. E. negativ zu beantwortende Frage, ob S.s Vorschlag sich in die bekannte Paulusbiographie einordnen lässt.

Reizvoll ist der Vergleich der Motive antiker Seesturmschilderungen mit der Darbietung des lukanischen Stoffes. Erhellend ist der Vergleich mit Homer Od V 338-350, der verschiedene Übereinstimmungen mit Apg 27,21-26 aufweist (391). Auf Grund der qualifizierenden Erwähnung der Differenzen zu den antiken Darstellungen hält S. in Auseinandersetzung mit Reiser fest, dass Apg 27,9 ff. nicht literarisch von Seesturmschilderungen abhängig, sondern eine lukanische "Lesefrucht" (407) ist - eine Aussage, die mit Recht die Verantwortung des lukanischen Erzählers herausstellt, weshalb S. für den Seenotrettungsbericht Apg 27,9-44 Quellenhypothesen ablehnt (420-437: außer für 27,16.27.37, die er zum historischen Rahmenbericht rechnet; zu diesem Reisebericht werden auch 28,7.10 gezählt [465]).

S. bestimmt Apg 27,9-44 als "Rettungswundererzählung", wobei die Parallelen und die für die individuelle Form der jeweiligen Erzählung wichtigen Differenzen besonders beachtet werden, Paulus sei in ihr als "Antitypos zu Jona" (419; s. a. 218 ff.) auszumachen.

Im Einzelnen ist zu fragen, ob man Gebetserhörung und Epiphanie auf die jüdische bzw. hellenistische Form des Rettungswunders verteilen kann (z. B. verdankt sich der Prosahymnus Aelius Aristides Or 43 nach Ausweis seines Dichters der Anrufung des Zeus in Seenot). Gut wird herausgearbeitet, dass Paulus einerseits Ziel des Rettungshandelns ist, indem er nicht selbst die Rettung bewirkt, und andererseits Anlass des Rettungshandelns, da um seinetwillen die Rettung erfolgt. Apg 27 sei Teil "tragisch-pathetischer Geschichtsschreibung" (484 ff. mit Plümacher) und kann im Rahmen des lukanischen Geschichtskonzepts als Erfüllungsgeschehen gelesen werden, das die Kontinuität des Heils belegt. Apg 1,8 erfüllt sich in Rom, weil in Auslegung von Jes 46,6LXX mit dem "Ende der Welt" alle Völker ins Auge gefasst sind, zu denen Rom der "Schlüssel" sei: "Die Ankunft des Paulus in Rom ist ... im Sinne des Lukas Teilziel und zugleich Unterpfand" der vollständigen Erfüllung (503 f.). Lebensgefährdung und Rettung des Paulus tragen Züge von Jesu Tod und Auferstehung, wodurch der Kontinuitätsgedanke ebenfalls verstärkt wird.

S.s umfangreiches und beachtenswertes Opus reizt zu einer kritischen Diskussion. In den Textbeobachtungen ist die Arbeit oft wertvoll, in den redaktionsgeschichtlichen Analysen beachtenswert, in den historischen Thesen herausfordernd, aber m. E. nicht immer überzeugend. Dies betrifft vor allem die historische Infragestellung der zweifelsohne lukanisch gestalteten Verbringung des Paulus nach Rom und seines dahinter stehenden römischen Bürgerrechts. Gerade der Aufwand, Paulus als gerecht und ehrenhaft darzustellen, belegt, wie "Lukas" mit dem Statusverlust durch Gefangenschaft für den Apostel und seine Botschaft ringt - ist dies mit theologischem Ertrag verbunden, so nötigt die erzählerische Sinnbildung des Lukas Respekt ab, rechtfertigt aber nicht jede historische Skepsis. Mit einer Invention von Prozess und Verbringung des Paulus aus Gründen der Apologetik (372 ff.) hätte Lukas mehr Probleme aufgeworfen als gelöst.

S. ist eine anregende Studie zu verdanken, die Bekanntes auf eine neue sachliche oder methodische Basis stellt. Zugleich entwickelt sie eigene Thesen, die auch zum Widerspruch reizen. Die Arbeit belegt anschaulich, wie die gemeinsame Verwendung synchroner und diachroner Analysemethoden die Interpretation von Texten befruchtet. Zu bemängeln ist, dass die Darlegung manchmal zu lang gerät und eine teilweise recht hybride Untergliederung aufweist. Der Dialog mit der Enzyklopädie der intendierten und realen Adressaten hätte bereits in den synchronen Textanalysen intensiver ausfallen können. Die Rezeption der empfehlenswerten Studie wird durch das Fehlen eines Registers erschwert, das die Beobachtungen in diesem vielschichtigen Band zugänglicher machen würde.