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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

497–500

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Blaschke, Olaf

Titel/Untertitel:

Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 443 S. gr.8 = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 122. Kart. DM 78,-. ISBN 3-525-35785-0.

Rezensent:

Kurt Nowak

Die Quintessenz dieser Bielefelder Dissertation gleich vorweg: Das antisemitische Potential des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich - von der Forschung bislang unterschätzt, unentschieden gedeutet oder gar verleugnet - sei konstitutiver Teil des katholischen Milieus gewesen. Ein "guter Katholik" war auch antisemitisch. Für Sprengstoff hat Olaf Blaschke, ein energisch aufstrebender Wehlerianer, mithin gesorgt.

Ursprünglich umfaßte das Konvolut der Dissertation mehr als tausend Seiten. Der Doktorvater weigerte sich "standhaft", den über die Ufer tretenden Textstrom als Endprodukt zu akzeptieren: "der Riese des Sommers 1995 schrumpfte auf ein geradezu anmutig schlankes Format von rund 280 Textseiten" (9). Der Rezipient und Rezensent hat also die eingedickte Version eines wesentlich umfangreicheren Opus vor sich. Der Vf. beabsichtigt, eine zweite Monographie oder wenigstens einige Aufsätze nachzuschieben, welche die lesende Öffentlichkeit mit den stärker mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Teilen seines Urtexts bekannt machen sollen.

Wäre das Thema nicht so bitter ernst, könnten die Protestanten dem Vf. Anerkennung dafür zollen, daß er eine konfessionsgeschichtlich einseitige Optik korrigiert. Nach landläufiger Meinung war der Antisemitismus in der Wilhelminischen Ära überwiegend eine protestantische Angelegenheit. Wenn nunmehr 22 Millionen deutschen Katholiken attestiert wird, auch sie hätten das Syndrom der Judenfeindschaft genährt, dann fällt neues Licht auf die Geschichte der beiden großen Konfessionen und auf die kaiserzeitliche Gesellschaft. Der Verdacht, auch die Katholiken hätten dem Antisemitismus seit den 1870er Jahren reichlich Tribut gezollt, schwelte schon länger. Der Vf. verweist auf Amine Haases Münsteraner Dissertation von 1975 und auf die Arbeiten von Walter Zwi Bacherach und Erich Heinen. Er hätte den Hinweis auf die Münchener Dissertation von Stefan Lehr aus dem Jahr 1974 hinzufügen können (Behandlung August Rohlings und seiner Wirkungen). Scharf ins Gericht geht er mit zwei jüngst erschienenen Monographien, von denen er zunächst befürchtete, sie könnten seine kritische Analyse erübrigen: mit der Arbeit von Michael Langer (Zwischen Vorurteil und Aggression. Zum Judenbild in der deutschsprachigen Volksbildung des 19. Jahrhunderts. Freiburg 1994) und mit der Untersuchung von Uwe Mazura (Zentrumspartei und Judenfrage 1870/71-1933. Verfassungsstaat und Minderheitenschutz. Mainz 1994). Langer erhält vom Vf. die Zensur "widersprüchlich". Mazura wird als "verharmlosend", insofern als "provokant" und "brisant" eingestuft (16).

"Die vorliegende Arbeit", schreibt der Vf., "erhebt Einspruch gegen ein Ensemble von sieben Thesen, die sich in der Literatur behaupten" (17). Der Einspruch richtet sich zum einen gegen jenes Theoriefeld, innerhalb dessen das Verhältnis des Katholizismus zum Antisemitismus 1. als Resistenz fehlgedeutet, 2. als ambivalent mißverstanden, 3. durch Bagatellisierung entmächtigt, 4. durch Dramatisierung isoliert und 5. durch die "Realkonfliktthese" nur scheinplausibel erklärt werde. Zum anderen wendet sich der Einspruch des Vf.s gegen Theorien, welche 6. unter Hinweis auf die katholischen Submilieus die Homogenität des Katholizismus bestreiten, und gegen jene Deutungen, welche 7. den Katholizismus nicht nur in seinen formalen Strukturen (Vereine, Presse, Politikbetätigung u. a.), sondern vom Grundsatz her stärker an die Moderne heranrücken. Im Kontrast zu diesen Differenzierungsleistungen, die dem Vf. als Vernebelung historischer Tatsachen erscheinen, erklärt er: Der kaiserzeitliche Katholizismus war ein Bollwerk der Gegenmoderne. Und weiter: Weil der Katholizismus antimodern war, war er auch antisemitisch, da sich die Gegenmoderne zu guten Teilen über den "kulturellen Code" des Antisemitismus (Shulamit Volkov) definierte (25 u.ö.).

Aus der Perspektive des Vf.s, und das heißt einer antimodern zentrierten Milieu- und Mentalitätstheorie des Katholizismus, sind die antisemitischen Stereotypen in der katholischen Kirchen-, Adels- und Bürgerwelt keine Verirrungen und Entgleisungen. Sie belegen nach seiner Ansicht, daß der Antisemitismus ein integraler Bestandteil des römisch-katholischen Selbst- und Weltverständnisses war. Begriffsklirrend legt der Vf. folgende "Funktionen des Antisemitismus im Katholizismus" dar (107 ff.): "Kontermodernisierung - Komplexitätsminimierung- Kohärenzmaximierung - Kompensation - Konkurrenzbewältigung". Einfacher gesagt, der Katholizismus bedurfte des antisemitischen Mörtels zur Abgrenzung gegen die moderne Welt und zur Festigung seines Milieus.

Fragt man nach der Quellenbasis, bleibt der Ehrgeiz des Vf.s zum Großräumigen ungebrochen. Im Bereich des ultramontanen Katholizismus habe er 23 Zeitschriften, 14 Tageszeitungen oder Sonntagsblätter sowie Handbücher, Lexika, politische Reden, Predigten und vieles andere ("einige Nachlässe und Akten" etwa) ausgewertet. Allein seinen statistischen Erhebungen - sie fanden ihren Niederschlag in sechs arbeitsintensiven Tabellen (287-295) -, liegen fünf Zeitschriften und "144 Publikationen antisemitischen Inhalts" zugrunde. Hinzu kommen Quellen des "Kulturkatholizismus", nämlich "21 Periodika und diverse Schriften" (28 f.). Spätestens an dieser Stelle muß man die Eindickung des Tausend-Seiten-Opus auf das 280-Seiten-Format bedauern. Denn tatsächlich bekommt der Leser von den Materialschlachten nicht viel zu Gesicht. Er erhält weithin nur die Konklusionen dargeboten. Sie bestehen neben der bereits skizzierten Grundaussage in einigen substantiellen Interpretamenten. Pflegte der Katholizismus, so der Vf., auch keinen Radau- und Rassenantisemitismus, so sei die Schlußfolgerung, ein religiös-kulturell verfeinerter und in erster Linie der Stabilisierung des katholischen Milieus dienender Antisemitismus sei weniger problematisch gewesen, gleichwohl zutiefst verfehlt. Auch der kulturell gedämpfte Antisemitismus mit seinen kirchlichen und gesellschaftlichen Funktionen (Aufbau, Festigung, Abgrenzung der katholischen "Sondergesellschaft") trug eine mörderische Komponente in sich: das Phlegma der Nichtwahrnehmung. "Nicht ,Mordlust’ trieb die meisten Katholiken an, sondern eine letztlich mörderische Lust-Losigkeit, sich des Schicksals ihrer jüdischen Mitbürger anzunehmen" (282). Dieser Satz ist vom Vf. im Blick auf die Haltung des Katholizismus zum Holocaust formuliert. Allein die Stabilität und Kontinuität der katholischen Variante des Antisemitismus erklärt nach seiner Ansicht, warum die katholische Kirche im Dritten Reich zur Entrechtung und Vernichtung der Juden schwieg (282; 13 u. ö.).

Der Vf. sieht den konservativen "Moralprotestantismus" des Kaiserreichs und den ultramontanen Katholizismus in konvergenten Denk-, Mentalitäts- und Verhaltensmustern gefangen. Der katholische Antisemitismus habe dem protestantischen Antisemitismus lediglich in seiner "gehemmten Intensität" nachgestanden: "ein Fels in der Brandung der Experimentierfreude" (180). Konvergenz sieht der Vf. im übrigen auch bei den Abweichlern vom mehrheitlich konservativen mainstream: bei den liberalen Kulturprotestanten und bei den Kulturkatholiken. Ihr ursprünglicher Anti-Antisemitismus fächerte sich zu einer Fülle von Optionen aus, die dann auch den Antisemitismus einschloß- ein Phänomen, welches im Kulturkatholizismus seit dem Ende des 19. Jh.s noch prominenter hervorgetreten sei als im kulturprotestantischen Lager (161 ff.).

Die Feststellung, man habe es nicht mit einem Auslöschungsantisemitismus zu tun, vielmehr mit "einer umfassende(n) Kontinuität des Milieus, der Antimoderne und des endogenen Antisemitismus" (282), kann als Modifikation des Ansatzes von Goldhagen verstanden werden. Die Diagnose "endogener Antisemitismus" ist, wie bei hochkomplexen Phänomenen kaum anders zu erwarten und entgegen der Gewißheit des Vf.s, freilich nicht einfach zu verifizieren (oder zu falsifizieren).

Besonders überrascht war der Rez. von der Thetik der Urteile über den protestantischen Antisemitismus. Die Darlegungen des Vf.s suggerieren das Vorhandensein einer Forschung, die den Standards einer elaborierten gesellschaftsgeschichtlichen Stratifikation genügt. Entsprechende bibliographische Referenzen bleibt er jedoch schuldig. Sie beizubringen ist auch nicht möglich, denn die breite Zugriffsforschung auf das Thema Protestantismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich fehlt insgesamt noch. Zweifel an der konfessionsgeschichtlichen Taktfestigkeit des Vf.s werden zusätzlich wach, wenn man liest, daß der "Evangelisch-soziale Kongreß" - dies wird durchaus für die Jahre bis 1896 behauptet - "einer der wichtigsten Vergesellschaftungsorte des Kulturportestantismus" war (179). War sein Charakteristikum bis zu diesem Zeitpunkt nicht gerade ein Kurs der kirchenpolitischen Diagonale? Oder: Wer wird die Auffassung unterschreiben können, die Bekennende Kirche stand "in der kulturprotestantischen Tradition" (282)? Nachdenklich macht auch, daß sich der Vf. bei der Hervorhebung des Anti-Antisemitismus in Teilen des kulturprotestantischen Lagers den Befunden des Rez. ("Kulturprotestantismus und Judentum in der Weimarer Republik" [1993]) anschließt, in seinem Anmerkungsteil jedoch eben diese Schrift einen "bösen Fehlgriff" nennt (339, Anm. 50). Die schlichte Frage aus diesem Widerspruch lautet: Wie genau liest und verarbeitet der Vf. seine Texte?

Ein Resümee fällt schwer. Wir haben ein gleichermaßen intelligentes wie aggressives Buch vor uns. Positiver gesagt, der Text ist durchtränkt von der Leidenschaft zur historischen Aufklärung. Bei der Lektüre kam dem Rez. ein Wort des britischen Historikers Sir Lewis Namier in den Sinn, das Fritz Stern in seinem Artikel über das Buch von Goldhagen anführte: die "historische Annäherung an ein Forschungsobjekt [ist] intellektuell bescheiden ... Das Ziel ist, Situationen zu begreifen, Entwicklungslinien zu untersuchen, herauszufinden, wie die Geschehnisse zusammenwirkten; und die Krönung historischer Studien ist es, ein historisches Gefühl zu erlangen - ein intuitives Verständnis dafür, wie Vorgänge sich nicht ereignen ..." (DAAD: Zeitungsausschnitte zur Landeskunde. Erinnerung - Verdrängen -Vergessen. DieGoldhagen-Debatte in Deutschland, Teil II, 1)