Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2005

Spalte:

955–958

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schenke, Ludger, Broer, Ingo, Hoppe, Rudolf, Fiedler, Peter, Zeller, Dieter, Nützel, Johannes, Oberlinner, Lorenz, Gollinger, Hildegard, u. Hans Otto Zimmermann

Titel/Untertitel:

Jesus von Nazaret - Spuren und Konturen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2004. 383 S. m. 1 Abb. gr.8. Kart. Euro 22,00. ISBN 3-17-016978-5.

Rezensent:

Jens Schröter

Der Anton Vögtle gewidmete Band enthält 13 Beiträge seiner Schüler, die sich mit verschiedenen Aspekten der Jesusforschung befassen. Beigegeben sind ein "Literaturhauptverzeichnis", das durch Spezialliteratur zu den einzelnen Aufsätzen ergänzt wird, sowie ein Stellenregister.

Ingo Broer gibt im Eröffnungsbeitrag einen Überblick über historische Entwicklungen und methodische Aspekte der Jesusforschung, der in eine Auflistung sieben "weitgehend anerkannte[r] Ergebnisse der Jesusforschung" mündet: Taufe durch Johannes, Herkunft aus Galiläa, Predigt und Heilungen, Predigt von der Gottesherrschaft, Gründung des Zwölferkreises, Beschränkung auf Israel, Auseinandersetzungen mit der jüdischen Obrigkeit, Kreuzigung durch die Römer außerhalb Jerusalems. Von der außerkanonischen Jesusüberlieferung verdiene vor allem das Thomasevangelium Beachtung. Erwähnt werden auch die nichtchristlichen Zeugnisse. Es sei eine "Aufgabe für die Zukunft", Worte und Taten Jesu miteinander in Beziehung zu setzen und sich nicht allein auf Erstere zu konzentrieren.

Rudolf Hoppe gibt einen Überblick über die Geschichte Galiläas, das Verhältnis von Stadt und Land sowie vier galiläische Orte (Sepphoris, Tiberias, Kafarnaum, Betsaida). Bei seiner Wirksamkeit in den angrenzenden Gebieten habe sich Jesus um eine Stärkung der Identität jüdischer Minderheiten bemüht. Zwischen der heidenmissionarischen Perspektive des MkEv und der Wirksamkeit Jesu müsse, wie Hoppe zu Recht betont, unterschieden werden.

Es verwundert, dass wichtige Publikationen der neueren Forschung fehlen, wie z. B. J. L. Reed, Archaeology and the Galilean Jesus, 2000, und E. M. Meyers (Hrsg.), Galilee through the Centuries, 1999. Die Thesen einer "heterogenen Bevölkerungssituation Galiläas" (58) bzw. der "einflussreiche[n] Präsenz von Heiden" (51) hätten angesichts der neueren Forschung (vgl. etwa die von H. genannte Arbeit von M. Chancey) einer eingehenderen Begründung bedurft. Dies betrifft auch die Beschreibung von Sepphoris als "durch und durch hellenistisch geprägt" (52), denn es bestehen deutliche kulturelle und religiöse Unterschiede zwischen Sepphoris und Tiberias auf der einen, den phönizischen Küstenstädten und denjenigen der Dekapolis auf der anderen Seite. Die Annahme einer politisch aufgeheizten Stimmung in Galiläa ist für die Zeit des Antipas nur schwer zu belegen. Wenn Hoppe schließlich von einer "gewissen Bevölkerungskontinuität von der altisraelitischen Zeit angefangen über die persische bis in die hellenistische Zeit" spricht (45), müsste geklärt werden, wie sich dies zu dem von Zvi Gal publizierten archäologischen Befund verhält, der auf eine nahezu völlige Entvölkerung Galiläas vom 8. vorchristlichen Jh. bis in die persische Zeit schließen lässt. Dieser in der Galiläaforschung inzwischen weithin akzeptierte Befund sollte jedenfalls nicht einfach mit Stillschweigen übergangen werden.

Hoppes zweiter Beitrag befasst sich mit den so genannten "jüdischen Religionsparteien" zur Zeit Jesu. Die Jesusbewegung sei keiner dieser Parteien zuzuordnen, stehe jedoch als innerjüdische Erneuerungsbewegung den Pharisäern am nächsten.

Die drei folgenden Kapitel sind von Ludger Schenke verfasst und behandeln das Verhältnis Jesu zu Johannes dem Täufer, seine Botschaft vom kommenden Reich Gottes sowie seine Wundertätigkeit. Johannes habe den Entschluss Gottes verkündigt, mittels der Taufe am Tempel vorbei eine Möglichkeit zur Reinigung von Sünden zu schaffen. Nicht Gericht, sondern Umkehr zum Heil sei deshalb das Zentrum der Täuferbotschaft. Jesus habe hieran zunächst angeknüpft, sich später jedoch von Johannes emanzipiert. Der im Himmel bereits entschiedene Kampf zwischen Gott und Satan habe seiner neuen Einsicht zufolge jetzt auf der Erde begonnen, die Herrschaft Gottes breche sich in den charismatischen Taten Jesu Bahn. Es handle sich also nicht um einen Bruch mit dem Täufer, sondern um eine Verschiebung der eschatologischen Perspektive.

So sehr man dem zustimmen mag, irritieren doch die letzten Sätze des Beitrags, in denen vom Einreißen von Scheidemauern die Rede ist, die die Frommen Israels aufgerichtet hätten, vom Zerschlagen der Heilssicherheit Israels durch Johannes und Jesus gesprochen wird und davon, dass es nunmehr um das gesamte, der Sühne bedürftige Israel gehe. Man fühlt sich bei diesen Formulierungen unversehens in längst vergangene Zeiten zurückversetzt.

Für die Verkündigung der Gottesherrschaft durch Jesus bedeutet dies ein Ineinander von gegenwärtiger und zukünftiger Perspektive. Dem korrespondieren die Forderung konsequenter Nachfolge sowie die Ansage des Gerichts für diejenigen, die Jesus ablehnen.

Im Beitrag über Jesus als Wundertäter erneuert Schenke den alten Gegensatz zwischen Wort- und Erzählüberlieferung mit dem Argument, nur bei Ersterer sei es möglich, auf authentische Überlieferung zu stoßen - eine nur schwer einleuchtende Behauptung, sind doch Worte wie Taten Jesu gleichermaßen nur in der selektierenden, interpretierenden Überlieferung der ältesten Quellen zugänglich und bedürfen daher gleichermaßen der konstruierenden Arbeit des Historikers.

Bezüglich des historischen Wertes der Wundergeschichten ist Schenke skeptisch. Sie seien wenig individuell und folgten in der Regel dem Typos der antiken Wundergeschichte. Ob sich mit diesem Kriterium ein grundsätzlicher Unterschied zur Wortüberlieferung eruieren lässt, wäre genauer zu prüfen. Vielleicht müsste auch deutlicher differenziert werden, denn unter der Kategorie "Wundergeschichte" wird durchaus Verschiedenartiges subsumiert. Als "Sitz im Leben" der neutestamentlichen Wunderüberlieferung bestimmt Schenke die "Missionspropaganda" und vergleicht sie von daher mit den Inschriften von Epidauros. Dies bleibt freilich eine unbeweisbare Vermutung, denn die Funktion der Wundererzählungen außerhalb ihres literarischen Kontextes ist nicht mehr zugänglich. Dass sie in enger Verbindung zur Wortüberlieferung standen und sich von daher Kriterien für ihre Interpretation ergeben, wird von Schenke mit dem Verweis auf Lk 11,20Q; Lk 10,18; Mk 3,23 ff.27 zu Recht hervorgehoben. Insofern "ergänzen" die Wunder freilich nicht nur die Verkündigung des anbrechenden Gottesreiches (so 160), sondern sind ein integraler Bestandteil derselben.

Peter Fiedlers Beitrag befasst sich mit dem Thema der göttlichen Vergebungsbereitschaft in der Jesusüberlieferung. Wie bereits in seiner Studie von 1976 kommt er zu dem Ergebnis, der Zuspruch der Sündenvergebung durch Jesus (Mk 2,5; Lk 7,48) sei auf die nachösterliche Glaubensperspektive zurückzuführen. Jesus selbst habe dagegen auf Gottes unbedingte Vergebungsbereitschaft und seinen Heilswillen vertraut. Hierzu führt Fiedler "Vorgaben im biblisch-frühjüdischen Glauben" an und bespricht auf deren Grundlage etliche Gleichnisse sowie das Vaterunser. Ob die historische Schlussfolgerung zu tragen vermag, sei dahingestellt. Die Behandlung des frühjüdischen Materials wirkt recht pauschal, trotz der (im Literaturverzeichnis erwähnten) Studie von Sönke von Stemm, Der betende Sünder vor Gott (1999), die zu einem wesentlich differenzierteren Ergebnis gelangt war.

Dieter Zeller behandelt "Jesu weisheitliche Ethik", wobei er sich vornehmlich mit nach seiner grundlegenden Studie "Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern" (1977, 21983) erschienener Literatur auseinander setzt. Die im Vergleich mit ihren alttestamentlich-frühjüdischen Parallelen "radikalisierte Weisheit" Jesu lasse sich am ehesten als Belehrung der Jesusanhänger verstehen, die an der Durchsetzung des Reiches Gottes mitarbeiten. Jesus sei nicht dem Typus des Weisheitslehrers zuzurechnen: Es fehlen charakteristische Themen der weisheitlichen Unterweisung, die Forderung zum Vertrauen auf Gott und zur Selbstlosigkeit gehen über die traditionelle Weisheit hinaus und erklären sich vor dem Hintergrund der Botschaft vom anbrechenden Gottesreich.

Der zweite Beitrag von Broer ist dem Thema "Jesus und die Tora" gewidmet. Einsetzend mit einer "Frontbegradigung", in der Wellhausens These vom Judentum als Gesetzesreligion zurückgewiesen wird, stellt Broer einige Aspekte jüdischer Auffassungen über die Tora vor. Das Verhältnis Jesu zum Gesetz wird sodann anhand verschiedener Texte bzw. Themen diskutiert: Antithesen, Ehescheidung, Sabbat, Reinheitsgebote, Zehntgebot. Das Gesetz habe nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu gestanden. Die Maßstäbe für den Umgang mit den Torageboten erklären sich aus der Auffassung Jesu, einen eigenen Zugang zum Willen Gottes zu besitzen.

Lorenz Oberlinner befasst sich mit dem Zusammenhang von Wirken und Tod Jesu ("Der Weg Jesu zum Leiden"). Die Auffassung einer Heilswirkung seines Todes lasse sich für Jesus selbst nicht in Anspruch nehmen, wohl aber die Erwartung seines gewaltsamen Todes angesichts der sich in Jerusalem zuspitzenden Feindschaft. Auf Grund von Mk 14,25 könne zudem damit gerechnet werden, dass Jesus auch angesichts seines Todes an der Überzeugung von der Durchsetzung der Gottesherrschaft festhielt. Oberlinner sieht keinen Zusammenhang zwischen Verhaftung und Tempelaktion Jesu, deren historischen Wert er für zweifelhaft hält. Der Anlass für die Verhaftung sei das Tempelwort gewesen, das sich gut in die Verkündigung Jesu einfüge. Hier wäre weiter zu fragen nach dem Zusammenhang von Wirken Jesu und dem Anstoß, den er damit bei seinen jüdischen Zeitgenossen erregte. Diesbezüglich bleibt der Beitrag recht vage.

Weitere Studien, auf die hier nur noch hingewiesen werden kann, behandeln das Thema der Nachfolge (J. Nützel), "Frauen auf der Suche nach Jesus" (H. Gollinger) sowie "Gleichnisse im Religionsunterricht" (H. O. Zimmermann).

Die Beiträge bieten einen zuverlässigen Überblick über verschiedene Bereiche der Jesusforschung. In der Zugangsweise stehen sie der so genannten "neuen Frage" nach Jesus zumeist näher als der "Third Quest": Die nachösterliche Glaubensperspektive wird des Öfteren als Argument gegen die historische Auswertbarkeit der neutestamentlichen Texte ins Feld geführt, die Wort- wird höher als die Erzählüberlieferung gewertet, die Frage der Bedeutung außerkanonischer Überlieferung wird kaum angesprochen, angelsächsische Publikationen werden kaum in die Diskussion einbezogen. Vorsichtig in die Richtung neuerer Ansätze gehen die methodischen Bemerkungen von Broer sowie der Beitrag zu Galiläa von Hoppe (mit den genannten Einschränkungen). Nahezu durchgehend wird der frühjüdische Kontext für die Interpretation des Wirkens Jesu fruchtbar gemacht.

Wenn Schenke im Vorwort schreibt: "Historie kann nur beschreiben, niemals vergegenwärtigen. Nur durch erinnerndes, d. h. sinnstiftendes Erzählen können vergangene Personen und ihr Wirken lebendig werden. Solch deutende Sprache ist aber nicht die Sache der Historie", dann weist dies auf das wohl größte Defizit des Bandes hin: Es fehlt ein Beitrag zu den erkenntnistheoretischen und geschichtshermeneutischen Fragen der Jesusforschung. Die zitierten Sätze bewegen sich jedenfalls jenseits dessen, was in der Geschichtstheorie seit vielen Jahren diskutiert wird. Auf diesem für die gegenwärtige Gesprächslage überaus wichtigen Feld bleibt der Band deshalb hinter dem Diskussionsstand (vgl. etwa James D. G. Dunn, Jesus Remembered, 2003, Rez. ThLZ 130 [2005], 37) zurück.