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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

952–955

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Maisch, Ingrid

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Gemeinde in Kolossä.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 292 S. gr.8 = Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 12. Kart. Euro 27,00. ISBN 3-17-018134-3.

Rezensent:

Andreas Lindemann

Der Kolosserbrief wirft nach wie vor erhebliche theologische und historische Probleme auf, so dass man einen neuen Kommentar mit Spannung in die Hand nimmt. Der von M. vorgelegte Band enttäuscht die Erwartungen denn auch nicht, insofern die Ausführungen an vielen Stellen Neues enthalten und auf so bisher nicht gesehene Zusammenhänge verweisen. Ob sich M.s historische und hermeneutische Ergebnisse dann immer als überzeugend erweisen, ist eine andere Frage.

M. bietet nach dem Literaturverzeichnis einen ausführlichen Abschnitt zu den "Einleitungsfragen" (15-47); dann folgt die eingehende Exegese des Textes (48-274), und am Ende steht "Ein (Rück-)Blick auf den Kolosserbrief" (275-281), in dem es vor allem um die Bewertung des Kol aus gegenwärtig aktueller Perspektive geht.

Zu den historischen Fragen der Exegese vertritt M. die traditionellen, kritischen Positionen: Die Autorschaft des Paulus wird verneint; der Autor stammt nicht aus einer Paulus-"Schule", sondern er ist jemand, der paulinische Theologie "selektiv verwendet und eigenständig weitergibt" (18). Er stammt aus hellenistisch-judenchristlicher Tradition, ist aber an den Themen jüdischer Theologie nicht interessiert und übergeht gänzlich das "Erste Testament" (so in der Regel die Formulierung; es begegnet aber auch "Altes Testament"). Abfassungszeit sind die frühen 70er Jahre; der Abfassungsort sei jedenfalls im paulinischen Missionsgebiet zu suchen. Da in der Adresse der Begriff ekklesia nicht begegnet, sei an einen Adressatenkreis zu denken, der "stärker an Einzelpersonen als an Ortskirchen interessiert ist" (22; die Formulierung in 4,16 zur "Kirche der Laodizener" wird m. E. nicht genügend beachtet, vgl. 274). Adressaten seien Christen, die "durch das allgemeine geistige Klima - geprägt durch pagane Religionen und den kleinasiatischen Synkretismus - in ihrem Glauben verunsichert sind" (23; unmittelbar darauf heißt es: "Sie haben sich mit der Welt arrangiert und nehmen auch andere religiöse Angebote wahr"; passt das so zusammen?). Die vom Autor beschriebene Gefahr sei allerdings noch nicht eingetreten, denn "sonst müsste er zupackender in die Auseinandersetzung eintreten" (ebd.). Der Gattung nach sei Kol eine "theologisch untermauerte Paränese", keine theologische Abhandlung, sondern ein "Mahnschreiben" (26). M. folgt der These, dass die uns unbekannten tatsächlichen Leser "am Beispiel der angeblich früheren Korrespondenz des Paulus mit den Kolossern ablesen" sollen, wie sie ihren Glauben "stabilisieren" und gegen Anfechtungen "immunisieren" können (27).

Wer war die "kolossische Philosophie"? Nach M. ging es in ihr weder um die Propagierung einer anderen religiösen Überzeugung noch handelte es sich um christliche "Irrlehrer"; vielmehr stehe im Hintergrund die Tatsache einer bislang nur teilweise vollzogenen Bekehrung zum Christentum: Es zeige sich das in der Missionsgeschichte oft begegnende Phänomen, "dass die neuen Christen (alle? viele? einige?) den vollen Bruch mit ihrer religiösen Vergangenheit nicht vollzogen bzw. die alltäglichen Konsequenzen nicht bedacht haben" (38). Sie hätten sich den Nichtchristen gegenüber "wegen des Verzichts auf bestimmte religiöse Traditionen rechtfertigen" müssen und seien daher unsicher geworden (33). M. setzt dabei voraus, dass die Adressaten ausschließlich "Heidenchristen" waren und dass auch die Gegner keinerlei Verbindung zum Judentum hatten.

Der Kommentar folgt formal den Vorgaben der Reihe, bis hin zum Buchtitel, den M. ausdrücklich als "sachlich zweifelhaft" kritisiert (15). Auf die Übersetzung der einzelnen Perikopen folgen kurze Bemerkungen zur Textform und zu grammatischen Problemen, gelegentlich auch zur Textkritik. Sehr informativ sind die eingehenden Ausführungen zur Form und zur theologischen Tendenz des "Hymnus" 1,15-20, den M. lieber ein "christologisches Lehrgedicht" nennen möchte (74-126). Überaus hilfreich ist beispielsweise auch die Auslegung von 3,18-4,1; M. stellt nach sorgfältigen Textvergleichen fest, die Haustafel des Kol könne "nicht nahtlos aus griechisch-römischen oder jüdisch-hellenistischen Vorbildern abgeleitet werden", denn "weder die Beschränkung auf drei Paare noch die durchgehende Reprozität noch die Anrede an jedes Glied" seien irgendwo gemeinsam im gleichen Text zu finden (246).

Dem Charakter der Reihe entsprechend erörtert M. ausdrücklich die Frage der Beziehung des Kol zum Judentum bzw. der sich aus seiner Theologie ergebenden Konsequenzen für einen christlichen Antijudaismus. Im Einleitungsteil betont M., die für die Ekklesiologie des Kol charakteristische Leib-Christi-Vorstellung weise ein deutliches Defizit auf, insofern die Herkunft der Kirche aus Israel nicht zur Sprache komme; hier zieht M. eine direkte Linie vom Kol über den Eph zu der nach ihrer Darstellung sich vom Judentum distanzierenden Enzyklika "Mystici Corporis Christi" aus dem Jahre 1943. Der Kol habe zwar "Israel diesen tödlichen Schlag noch nicht versetzt, aber das Material für eine entsprechend Entwicklung bereitgestellt" (46). Dazu gehöre "auch, dass die Heilige Schrift Israels im Text ausgeklammert wird"; die vorhandenen Anklänge an biblische Sprache gingen "eher auf die judenchristliche Herkunft des Autors" zurück als auf den Wunsch, "positiv an religiöse Erfahrungen Israels anzuknüpfen". Das Kirchenbild des Kol sei deshalb im Sinne einer "kanonischen Hermeneutik" durch Aussagen wie in Röm 11,12 f.; 15,8 f. zu ergänzen (47). Allerdings verneint M. für die historische Ebene des Kol jede - auch jede negative - Beziehung zum Judentum. Das fällt besonders bei der Auslegung von Kol 2,9-15 auf; M. geht in einem Exkurs zu 2,11 zwar ausführlich auf die judenfeindliche Wirkungsgeschichte der Aussage über die "nicht mit Händen gemachte Beschneidung" ein (177-182), betont aber zugleich, diese Formulierung sei im Kol selbst nicht antijüdisch gemeint, zumal auch die "kolossische Philosophie" nichts mit dem Judentum zu tun habe. Auch die in 2,16 erwähnten Festtage seien ausschließlich im paganen Kontext zu verstehen, was auch für den Sabbat gelte, "wenn man das Wort in die Nähe des kleinasiatischen Hochgottes Sabazios rückt" (185); die "Neuchristen" seien in eine schwierige Situation geraten, weil sie völlig auf "religiös geprägte Tage" verzichtet hatten. Die Verbindung zwischen dem "Sabbat" in 2,16 und dem Gott "Sabazios" geschieht bei M. freilich in einer sehr kühnen Überlegung: Nichtjuden in Kleinasien hätten einen solchen Zusammenhang gesehen, und deshalb sei es "durchaus denkbar, dass umgekehrt ein judenchristlicher Autor bei Hinweisen auf den Sabazioskult unter Christen den Gott des Sabbats assoziiert"; folglich müsse die "Trias" Fest, Neumond, Sabbat "nicht auf jüdische Elemente in der Philosophie hinweisen, sondern eher auf einen Autor mit jüdischem Hintergrund, der - unbewusst? - die ganze ihm geläufige Reihe zitiert" und der nun "mit Erstaunen und Ablehnung auf die Reste paganer Praxis" bei den "Neuchristen" blicke (186). Dieser Gedankengang eines judenchristlichen Autors scheint mir kaum nachvollziehbar zu sein, und mir ist auch unklar, wie nach Meinung des Autors des Kol die rein heidenchristlichen Adressaten diese Assoziation hätten verstehen sollen.

Im Schlussabschnitt fragt M., "dem Anliegen der Kommentarreihe entsprechend", ob Kol ein antijüdischer Text ist "oder ob die christlichen Leser und Leserinnen der Vergangenheit ihre schon vorhandenen antijüdischen Ressentiments in den Text hineingelesen haben" (275). Diese Frage kommt etwas überraschend, nachdem die Auslegung selbst - mit Ausnahme des erwähnten Exkurses zur Wirkungsgeschichte von 2,11 - Indizien für antijüdische Aussagen des Kol nicht aufgewiesen hatte. M. stellt dann fest, Kol lasse das in seiner Zeit übliche Desinteresse an Israel erkennen - wiederum etwas überraschend, da doch in der Auslegung gezeigt worden war, dass die im Kol angesprochenen Probleme der Adressaten in keiner Weise etwas mit dem Judentum zu tun hatten. Schließlich findet M. im Kol dann doch "Stellen, die nicht unmittelbar gegen Israel bzw. das Judentum gerichtet sind, die jedoch antijüdische Konsequenzen implizieren oder Anhaltspunkte für eine spätere, ausgesprochen antijüdische Auslegung bieten". Dazu zähle der exklusive Heilsanspruch, den Kol erhebt; zwar geschehe dies in der Absicht, "den Einfluss der paganen Religion auf die Neuchristen abzuwehren", doch implizit werde damit auch Israel jegliche Heilsbedeutung abgesprochen, womit sich Kol nach Meinung von M. deutlich von Paulus unterscheide (276, unter Verweis auf Röm 11,11 f.15.31). Auch das Revelationsschema in 1,26 f. sei zwar gegen Heiden gerichtet, blende aber Gottes Offenbarung in Israel aus (277). So müsse man die ursprünglich nicht antijüdischen, aber so interpretierbaren Aussagen des Kol vom Gesamtzeugnis des Neuen Testaments her korrigieren, wofür M. auf den Hebräerbrief (1,1) verweist (280; aber lässt sich die explizite Abwertung des "Ersten Testaments" in Hebr 8 und 9 wirklich als eine israelfreundliche Korrektur des Kol ansehen?).

Sieht man von den m. E. wenig textnahen Reflexionen im Eingangs- und im Schlussteil ab, so hat M. mit ihrem Kommentar einen wertvollen Beitrag zur Kol-Exegese geleistet.