Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2005

Spalte:

950–952

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Konradt, Matthias

Titel/Untertitel:

Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1Thess und 1Kor.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XIV, 641 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 117. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-017596-7.

Rezensent:

Lars Aejmelaeus

Schon ganz am Anfang des Buches wird das Problem, mit dem K. sich beschäftigen will, klar vorgestellt: In den neutestamentlichen Gerichtsaussagen stoßen die Theologen auf Schwierigkeiten, weil man sie nicht leicht mit den paulinischen Rechtfertigungsaussagen verknüpfen kann. Die Frage lautet, "ob oder wie sich die Vorstellung eines Gerichts nach den Werken mit der Rede von der Rechtfertigung aufgrund von Glauben zusammenbringen lässt". Den Hintergrund dieses Problems bildet die Vorstellung, die man oft für allgemein gültige neutestamentliche Lehre hält, nämlich die Vorstellung eines förmlichen Gerichtsszenariums, in dem alle über ihr gutes und schlechtes Tun vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. K. verspricht in seiner Monographie, eine Lösung dieses Problems zu geben, was sofort das Interesse des Lesers weckt. Was am Anfang versprochen wird, wird in der Fortsetzung gehalten. Das Problem wird gelöst, wenn man genauer nachforscht, wie der echte Paulus selbst und nur er die Gerichtsthemen in seinen Briefen behandelt.

Die von E. P. Sanders sich herleitende und von K. Yinger vor kurzem (Cambridge 1999) weitergeführte Art und Weise, sich mit der Bundesnomismusthese dem Problem zu nähern, erweist sich als guter Ausgangspunkt, von dem aus K. seine Interpretation weiterentwickeln kann. Yinger macht einen Unterschied zwischen "Hineingelangen in die Sphäre des Heils" und "Drinbleiben in der Sphäre des Heils". Das "Hineingelangen" beruht allein auf der göttlichen Gnade, das "Drinbleiben" setzt jedoch Gehorsam voraus. Obwohl diese Interpretation schon auf der richtigen Spur ist, müssen die Voraussetzungen des "Drinbleibens" spezifiziert werden. Der neue Gesichtswinkel, mit dessen Hilfe K. die Behandlung des Problems weiterbringen will, besteht darin, "dass die ethischen und ekklesiologischen Kontexte von Gerichtsaussagen ... in Blick kommen". Daneben betont K., dass die Funktion der variierenden paulinischen Gerichtsaussagen in textpragmatischer Hinsicht geklärt werden soll.

K. geht äußerst sorgfältig das für sein Thema wichtige Textmaterial durch. Von 1Thess und 1Kor werden große Textblöcke analysiert und erläutert. Mit leichter Hand wird das Gerichtsthema auch in den übrigen echten Paulusbriefen behandelt. Schon durch die Konzentration auf die zwei Briefe wird K.s These gut begründet, weil in 1Thess und 1Kor eben die paulinischen Stellen zu finden sind, in denen das Problem am besten zum Vorschein kommt. Das Buch ist umfangreich, weil die Diskussion mit anderen Exegeten sehr gründlich ist. Ungefähr die Hälfte des Buches besteht aus Fußnoten, in denen die Diskussion mit anderen Exegeten geführt wird. K. diskutiert dabei ziemlich umfangreich auch Probleme, die nur indirekt mit seinem Hauptthema zusammenhängen. Alles geschieht jedoch auf eine frische und klare Weise, so dass der Leser sich nicht langweilt.

Methodisch arbeitet K. klar und folgerichtig. Es ist leicht, seiner Argumentation zu folgen. Meistens kann er auch überzeugen. Besonders wenn er Antworten aus "textpragmatischem" Gesichtswinkel auf die schwierigen Fragen zu geben versucht, warum Paulus etwas eben in einem bestimmten Zusammenhang und zu einem bestimmten Publikum schreibt und was sein Zweck dabei wirklich ist, kommt er zu wertvollen und oft sogar einleuchtenden Schlüssen. Irgendein Nebenthema kann dabei natürlich auch dann und wann mit einer dünnen Argumentation akzeptiert werden, so z. B. die Interpretation, dass die auferstandenen und sonst geretteten Christen nach 1Thess 4,17 mit Christus in den Himmel entrückt werden und nicht mit ihm zusammen zurück auf die Erde kommen (68-69.131-134).

K. erbringt den Nachweis, dass nach Paulus die Christen am jüngsten Tage überhaupt nicht vor den Richterstuhl Gottes oder Christus zu treten brauchen. Eben dadurch, dass sie Christen sind, gehören sie der Gruppe an, die vor dem Zorn Gottes gerettet ist. Hier ist eine Gerichtshandlung nicht mehr nötig. Die anderen hingegen werden durch den Zorn Gottes vernichtet. Wenn Paulus dennoch an einigen Stellen von Gott oder Christus als Richter und von ihrem Richterstuhl spricht, geht es um Apostel und Gemeindeleiter, deren Arbeit vor Gott besonders geprüft wird. Dabei dient das Thema außerdem "textpragmatisch" als rhetorisches Hilfsmittel speziellen Zwecken, z. B. dass die Menschen nicht zu leichtsinnig Urteile über ihre Apostel und Leiter fällen; das Kritisieren und Richten der Apostel obliegt nicht den Menschen, sondern allein Gott. Wenn Paulus in 1Kor 3,10-15 auf die Auszeichnung und Strafe "eines Gemeindebauers" hinweist, geht es nicht um eine Entscheidung zwischen Heil und Unheil, sondern um eine in ihrem Inhalt unklar bleibende Vergütung dieser besonderen Christen, die in variierender Schicklichkeit Gemeinden geleitet haben. Wenn Paulus in Röm 2 von Gott als Richter spricht, vor dem sowohl der Heide als auch der Jude Rechenschaft abgeben soll, dient dieses Bild dem rhetorischen Zweck zu beweisen, dass der Jude im Prinzip vor Gott keinen Vorteil vor dem Heiden haben kann, sondern dass beide ohne Christus auf die gleiche Weise verloren sind. Paulus hat natürlich die verschiedenen Bilder, die man im Judentum über den jüngsten Tag hatte, gekannt und nutzt sie für seine Zwecke. Es ist jedoch möglich, einen Unterschied zu machen, wo er im Ernst spricht, was er wirklich meint, und wo die benutzten Bilder aus rhetorisch-textpragmatischen Ursachen nur als Hilfsargumente und Illustrationen seiner Gedanken dienen.

Was das Thema "Drinbleiben" und "Gericht nach den Werken" anbelangt, ist es dem Apostel klar, dass nicht alle, die Mitglieder der Gemeinde geworden sind, automatisch auch das ewige Leben erlangen werden. Sie müssen auch in der Sphäre der Rettung bleiben. Das bedeutet, dass sie nicht in die frühere nicht-christliche Existenz zurückfallen. Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet Paulus die "Werke", die hier entscheidend sind. Es gibt Sünden, die so schwer gegen die christliche Identität verstoßen, dass sie sie zunichte machen. Wenn Paulus über dieses Thema mit den Thessalonichern spricht, die erst kurz vorher den Götzendienst aufgegeben haben und Christen geworden sind, ist es ihm wichtig, ihre Konversionsentscheidung zu festigen. Dabei betont Paulus die Heiligung und in ihr besonders das Sexualethos als Abgrenzung der Gemeinde von der heidnischen Umwelt (1Thess 4,3). Paulus hat schon vom Judentum das Sexualethos als klares Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Volk Gottes und der heidnischen Umwelt geerbt. Die andere schwere Sünde, die ebenso bei der Identität der Christen eine entscheidende Rolle spielt, ist die Habgier (1Thess 4,6). Neben dem Götzendienst sind Unzucht und Habgier die heidnischen Kardinallaster. Wer Unzucht treibt oder von Habgier erfüllt ist, muss damit rechnen, vom Reich Gottes wieder ausgeschlossen zu werden.

In der Situation der Korinther werden dieselben Themen betont, obwohl die Probleme dieser Gemeinde anders waren: Paulus fürchtete nicht, dass sie ihre christliche Identität zu Gunsten der früheren heidnischen Identität aufgeben würden, sondern dass sie beide Identitäten falsch zusammenbringen und als Christen auch verbotene heidnische Sitten tolerieren und ausüben. In dieser Situation ist es wichtig, auch das Kreuz Christi als das spezielle Identitätszeichen der Christen zu betonen. Die Kreuzestheologie setzt die besondere Existenzweise der gegenseitigen Liebe und Anerkennung voraus. Auch auf diesem Gebiet können so schwere Sünden begangen werden, dass man seine christliche Identität verliert. Das lieblose Verhalten gegenüber den armen Brüdern beim Feiern des Herrenmahls und das Problem des Essens von Götzenopferfleisch werden von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet. Bei der Einstellung zum Opferfleisch kann sowohl der "schwache" als auch der "starke" Bruder die Identitätsschranke überschreiten, so dass er zurück in die Schar der Verlorenen fällt: der Erste wegen seiner (subjektiven) Teilnahme am Götzendienst, der Letzte wegen seiner unchristlichen Lieblosigkeit. Der "starke" Bruder kann auch sonst in seinem übergroßen Freiheitswahn in dem schon an sich verbotenen Götzendienst zu weit gehen.

Die paulinische Ganzheitsauffassung vom eschatologischen Gericht ist also nach K. die folgende: Es ist einem Christen unmöglich, durch gute Werke seine Rettung zu erwerben. Sie gründet sich nur auf den Glauben an Christus. Ein Christ kann jedoch durch schwere Sünden, die seine Identität als Christ zerstören, aus der Schar der Geretteten herausfallen. Diejenigen, die Christen geworden sind und es bleiben, werden gerettet. Da braucht man in Zukunft keine weitere Prüfung vor einem Gerichtsstuhl. Nur die Christen werden in der Zukunft auferstehen, die anderen Menschen nicht. Für die Nicht-Christen, die "am Tage des Zornes" leben, ist nur die Vernichtung zu erwarten.

Mit seinem Buch bringt K. Klarheit in einen zentralen Problemkreis der paulinischen Theologie. Nicht nur jeder, der mit dem Thema Gericht zu tun hat, sondern auch jeder, der sich sonst mit den Texten des 1Thess und 1Kor beschäftigt, erzielt großen Nutzen, wenn er diese vielseitige und solide Monographie in die Hand nimmt.