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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

946–948

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Elliott, Susan

Titel/Untertitel:

Cutting Too Close for Comfort. Paul's Letter to the Galatians in its Anatolian Cultic Context.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2003. XVI, 391 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series, 248. Lw. £ 80,00. ISBN 0-8264-6660-5.

Rezensent:

Thomas Witulski

Das Buch ist außerordentlich übersichtlich aufgebaut. In der Einleitung erläutert die Vfn. den methodischen Ansatz ihrer Untersuchung. Im ersten Hauptteil behandelt sie zwei Textpassagen aus Gal, Gal 4,21-5,1 und Gal 3,19-4,11, und stellt die nach ihrer Ansicht bis dato nicht zureichend gelösten exegetischen Probleme dar. Im zweiten Hauptteil beleuchtet sie einige Aspekte der religiösen Situation Zentralanatoliens. Im dritten Hauptteil verknüpft sie die Ergebnisse der beiden ersten Hauptteile miteinander und versucht zu zeigen, dass die im ersten Hauptteil aufgewiesenen exegetischen Probleme befriedigend geklärt werden können, wenn der Gal denn auf dem Hintergrund der sozialen und religiösen Situation seines Leserkreises interpretiert wird.

Zur Einleitung: Im Blickfeld der Vfn. liegen nicht mehr die von Paulus im Gal bekämpften Gegner, sondern vielmehr die Adressaten dieses Briefes und deren konkretes soziales, gesellschaftliches und religiöses Umfeld. Dieses gilt es zu erhellen, um Klarheit hinsichtlich der rhetorischen Situation des Briefes und der in ihm Platz greifenden rhetorischen Strategie zu gewinnen. Das Umfeld der Adressaten des Gal definiert die Vfn. geographisch als das westliche Zentralanatolien, soziologisch als das wesentlich familiär strukturierte Lebensgefüge dieser Region und religiös als "gentile popular religiosity" (8), wobei sie auf die Beschneidung als einen zentralen Aspekt dieser Religiosität abhebt.

Zum ersten Hauptteil: Im Blick auf Gal 4,21-5,1 benennt die Vfn. die Deutung der so genannten Sara-Hagar-Allegorie Gal 4,21 ff. als das wichtigste interpretatorische Problem. Nicht erklärbar sei, dass Paulus als geborener Jude das mosaische Gesetz und die irdische Stadt Jerusalem so negativ darstellt. Darüber hinaus sei zu fragen, warum er davon ausgehen kann, dass die Rezipienten seines Briefes durch seine auf dieser negativen Darstellung basierende Argumentation überzeugt werden könnten. Im Blick auf Gal 3,19-4,11 sei nur schwer verständlich, dass Paulus das mosaische Gesetz mit heidnischen Gottheiten identifiziert und die Unterstellung unter das Gesetz als erneute Versklavung unter eben diese Gottheiten darstellt.

Zum zweiten Hauptteil: Hier analysiert die Vfn. zunächst den Charakter der Volksreligiosität in Zentralanatolien. Die Menschen Zentralanatoliens würden ihre Gottheiten als absolute Autoritäten anerkennen und sich ihnen in jedem Lebensbereich unterwerfen. Dies komme etwa darin zum Ausdruck, dass hier besondere stadt- bzw. staatsähnliche Gebilde mit dem Tempel der entsprechenden Gottheit im Mittelpunkt konstituiert worden sind und dass den Gottheiten eine entscheidende Position im Rechtssystem zugebilligt wird. Im Anschluss daran kommt die Vfn. auf die Position der anatolischen Mother of the Gods innerhalb der zentralanatolischen Volksreligiosität zu sprechen. Diese Mother, die in unterschiedlichen konkret verehrten Mutter-Gottheiten Gestalt gewinnen und dementsprechend unter verschiedenen Namen firmieren kann, werde in Anatolien als sämtliche Lebensbereiche durchdringende guardian goddess verehrt. Dabei eigne ihr eine gewisse Zwiespältigkeit: "She plays a role in administration of justice and maintenance of community order but is also identified with the wilderness and orgiastic disorder" (126). Der mit der Mutter-Gottheit oftmals assoziierte Gott Attis trete als "figure between categories, comprehensible ... only by looking from two directions at once, visible by double vision" (158) auf. Er begegne als Grenzgänger zwischen Gott und Mensch und zwischen den Geschlechtern, als Gottheit, die zugleich sowohl verehrt als auch verspottet wird. Zudem werde er mit den galli, den Sklaven der Mother of the Gods assoziiert. Diese galli wiederum würden vor allem in Anatolien als verlängerter Arm der Mother of the Gods, deren Sklaven sie waren, und ihrer Macht wahrgenommen. Auf Grund ihrer innerhalb der Gesellschaft "interstitial position between the monarchial divine power of the Mother and her subject devotees" (229) kam ihnen einerseits eine erhebliche Machtfülle zu, andererseits standen sie immer auch in der Gefahr, verspottet und verachtet zu werden, zumal der Eintritt in den Dienst der Mother of the Gods mit dem entehrenden Akt der Selbstkastration verbunden war.

Zum dritten Hauptteil: Auf der Basis der Ergebnisse des ersten und des zweiten Hauptteils kommt die Vfn. zu dem Schluss, dass der Perikope Gal 4,21-5,1 eine triple analogy zu Grunde liegt, die aus zwei negativen Spalten und einer positiven Spalte besteht. In den negativen Spalten bezieht sie die negativen Angaben aus Gal 4,21-5,1 auf die religiösen Verhältnisse in Zentralanatolien, in der positiven Spalte stellt sie dann den beiden negativen Spalten die positiven Hinweise aus Gal 4,21-5,1 gegenüber. Dabei kommt sie konkret u. a. zu folgenden Entsprechungen bzw. Gegenüberstellungen: Hagar = Agdistis (Mother of the Gods) <=> Sarah, meter Dindymene = meter auf dem Berg Sinai <=> das obere Jerusalem als meter, Berg Dindymus = Berg Sinai <=> kein Berg, sondern ein Platz jenseits der Berge, Pessinus als Zentrum der Verehrung der meter Dindymene = das gegenwärtige Jerusalem <=> das obere Jerusalem (274 f.). Der von den Gegnern in Galatien geforderten Unterstellung unter das mosaische Gesetz und, damit zusammenhängend, der Beschneidung, entspräche die versklavende und entehrende Selbstkastration der galli, der auf christlicher Seite die Taufe und der Geistempfang gegenüberständen. Auf der Basis dieser triple analogy, die die Vfn. im weiteren Verlauf des dritten Hauptteils dann im Blick auf Gal 5 f. und Gal 3,1-5 weiter entfaltet, ließen sich die im ersten Hauptteil konstatierten interpretatorischen Probleme weitgehend lösen.

Die Ausführungen der Vfn. sind insgesamt außerordentlich interessant und anregend, ihr Ansatz führt die Forschung zum Gal m. E. in die richtige Richtung weiter. Allerdings bleiben Fragen: (a) Lässt sich die von der Vfn. vorgenommene Analogisierung durchhalten, wenn die kultisch-religiöse Kaiserverehrung und deren Bedeutung für die Einwohner in den Blick genommen werden? Hier hat der Rezensent in einer eigenen Arbeit Vorschläge gemacht. (b) Lässt sich diese Analogisierung durchhalten, wenn der von der Vfn. ausgesparte Abschnitt Gal 3,6 ff. Berücksichtigung findet? Hier zeigt Paulus, dass es ihm weniger um die Beschneidung als vielmehr um das mosaische Gesetz und dessen Bedeutung für die Christen geht. Dem personifizierten Gesetz kann die Vfn. auf der Ebene der religiösen Verhältnisse Anatoliens keine überzeugende Entsprechung zuordnen. (c) Lässt sich diese Analogisierung durchhalten, wenn versucht wird, sowohl die Verehrung der Mother of the Gods als auch den Adressatenkreis des Gal geographisch näher zu bestimmen? Ob etwa im Süden der römischen Provinz Galatia der Mother of the Gods die gleiche Bedeutung zukam wie rund um das im Norden gelegene große Heiligtum bei Pessinus, bleibt offen. Mit Recht schreibt die Vfn. am Ende ihres Epilogs: "These and other topics will have to await further exploration" (357). Sie selbst hat dazu allerdings einen wichtigen Schritt getan.