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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

944–946

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Blum, Matthias

Titel/Untertitel:

"... denn sie wissen nicht, was sie tun." Zur Rezeption der Fürbitte Jesu am Kreuz (Lk 23,34a) in der antiken jüdisch-christlichen Kontroverse.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2004. X, 242 S. gr.8 = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 46. Kart. Euro 37,00. ISBN 3-402-04794-2.

Rezensent:

Johann Maier

Die überarbeitete Fassung einer Berliner katholisch-theologischen Dissertation von 2001 untersucht die Auslegungs- und teilweise auch Wirkungsgeschichte einer neutestamentlichen Passage, die zwar zum geflügelten Wort geworden ist, aber offenbar noch immer nicht in jeder Hinsicht hinterfragt wurde. Die Untersuchung konzentriert sich auf die "antijudaistischen" Interpretationen, eine in diesem Fall besonders interessante Fragestellung, weil der Text als solcher einen - und insbesondere ausschließlichen - Bezug auf Juden nicht hergibt, folglich ein entsprechendes Vorverständnis anzunehmen ist. Der Vf. geht dabei von der überlieferten Textgestalt aus und hält den Vers für authentisch.

Teil I. "Auslegungs- und Wirkungsgeschichte" (3-11) enthält Überlegungen zur Verwendung der Begriffe Auslegungs-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. Im Teil II. "Vergewisserungen- Zur aktuellen Interpretation der Fürbitte am Kreuz" lässt der Vf. (13-49) die wissenschaftliche Behandlung des Verses Revue passieren. Dazu kommt noch speziell (50-54) ein Überblick über die Behandlung dieser Fürbitte Jesu im Rahmen der aktuellen "jüdisch-christlichen Kontroverse" (im akademischen Bereich). Der umfangreichste Teil III. (55-196), "Die Rezeption der Fürbitte Jesu am Kreuz in der Alten Kirche", gilt einer Reihe altkirchlicher Autoren bzw. Schriften. Etwas überraschend werden vorweg 1. das Nikodemusevangelium bzw. die Acta Pilati (55-66), in einem umfangreichen Exkurs das Petrusevangelium (67-80) und 2. ein gnostischer Text, die erste Apokalypse des Jakobus (81-86), behandelt. Diese Texte markieren Extrempositionen.

Unter 3. "Ausgewählte Kirchenschriftsteller" wird die Deutung von Luk 23,34 bei elf Autoren beschrieben: (1) Hegesipp, 87-92; (2) Irenäus, 93-98; (3) Origenes, 99-110; (4) Hippolyt von Rom, 111-115; (5) Ephraem der Syrer, 116-119; (6) Pseudoklementinen, 120-124; (7) Amphilochius, 125-129; (8) Gregor von Nyssa, 130-133; (9) Ambrosius von Mailand, 134-151; (10) Johannes Chrysostomus, 152-159; (11) Leo der Große (Predigten), 160-177. In 3.12 folgen unter "Ausblick" (178- 184) noch Hilarius von Poitiers, Augustinus und (182-184) Hieronymus. Gewissermaßen hinterdrein kommen unter 4. "Kirchenordnungen" noch die Didaskalia Apostolorum (186-191) und die Apostolischen Konstitutionen (193-196) zur Sprache. Der Schlussteil IV. enthält "Zusammenfassung und Auswertung" (197-214).

Die behandelten Texte lassen zwei Schwerpunkte erkennen: das Vergebungsmotiv, bei dem sich die Frage stellt, wer als Objekt gelten kann, und das Unwissenheitsmotiv. Als Hauptanliegen tritt zunächst die Betonung der Standhaftigkeit und unvergleichlichen Milde bzw. Barmherzigkeit des leidenden Jesus in Erscheinung, der damit die Erfüllung der Forderung der Feindesliebe selbst unter Beweis stellt. Das Objekt der Fürbitte wechselt aber je nach Kontext: einmal ohne spezifische Angabe und somit allgemein gemeint, teils auf die römischen Exekutoren bezogen oder auf "die Juden". Bei dem Bezug auf Juden begegnen aber Einschränkungen, so in der Disdaskalia Apostolorum, bei Ambrosius und Leo d. Gr., und nur bußwillige Juden werden in die Vergebungsbitte einbezogen, im Übrigen wird Feindesliebe geboten.

Man kann die Frage des Objekts sachlich freilich nicht vom Unwissenheitsmotiv trennen. Zwar verliert der Vers seine "antijudaistische" und christologische Note, wenn nur die römischen Soldaten als Objekt bezeichnet werden, aber theologisch-ethisch stellt sich dabei die - bemerkenswerterweise kaum beachtete - Frage, ob denn ein militärisches Exekutionskommando nicht weiß, was es tut. Hier wäre ein zwar nicht auslegungsgeschichtlicher, aber wirkungsgeschichtlich beachtenswerter Aspekt noch weiter zu verfolgen.

Verwunderlich ist, dass nie Apg 3,17 ("Aber ich weiß, Brüder, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, wie auch eure Anführer") mit herangezogen worden ist. Wie beim Vergebungsmotiv ergab sich ab und zu auch beim Unwissenheitsmotiv eine Einschränkung im Blick auf Juden. Nach Origenes und Ambrosius zeigt sich die Unwissenheit der Juden vor allem im Beharren auf dem Literalsinn, doch dahinter steht mehr: Gerade Juden hätten Christus erkennen müssen, und ausgerechnet sie haben Jesu Kreuzestod verursacht. Leo d. Gr. brachte zudem (Sermo 65,3) einen anti-häretischen Zug ins Spiel, wodurch sich seine Diktion polemisch verschärfte.

Die Behandlung des Unwissenheitsmotivs hätte breiter ausgeführt werden können. Dass christliche Autoren den Juden als den Repäsentanten des "Alten Bundes" eine abgehobene Stellung einräumten, ist selbstverständlich, galten sie ihnen doch als die einzigen Menschen, die Gottes Heilsplan kennen, also Wissende sind, mit der Ablehnung Jesu Christi den Heilsplan aber verkennen, und das ist qualitativ etwas anderes als die Unwissenheit der Heiden. Und man schloss daraus folgerichtig, dass Juden infolge der Bekehrung zum Christusglauben ihren eigentlichen Bundesstatus wiedergewinnen. Es hilft wenig, diesen grundsätzlichen Antagonismus von vornherein als judenfeindlich abzutun, denn auch ein Jude ist nicht deshalb schon als christenfeindlich zu etikettieren, weil er Jude bleibt, das Christentum ablehnt und zum Teil als Missbrauch der eigenen Religion wertet. Ernst gemeinte Toleranz muss den Widerspruch zur Kenntnis nehmen, verstehen und respektieren können, zwingt aber keineswegs dazu, ihn inhaltlich zu akzeptieren. Die moderne Anti-Antijudaismus-Literatur läuft Gefahr, die Aussagen alter Quellen von einer aktuellen Holocaust-Theologie aus von vornherein qualitativ so negativ einzustufen, dass der historische Kontext der - doch objektiv vorhandenen - christlich-jüdischen Konkurrenzsituation ausgeklammert wird. Das ist ebenso fragwürdig wie eine von den realen Konfrontationen losgelöste Darstellung jüdischer antichristlicher Polemik, denn die würde dann entsprechend dazu als unbedingte Christenfeindschaft erscheinen - so wie es in der judenfeindlichen und antisemitischen Literatur der Fall ist.

Die Einbeziehung des Häresie-Aspekts bei Leo d. Gr. ist allerdings ein Alarmzeichen. Ansätze dazu waren auch sonst vorhanden und im Mittelalter sind sie noch stärker in Erscheinung getreten. Dennoch führte dies letztlich nicht zu einer Einschätzung und Behandlung des Judentums als einer Häresie. Juden wurden darum - rückfällige Getaufte ausgenommen- eben nicht wie Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

In diesem Punkt ist ein Vergleich mit dem realen jüdischen Gegenüber von damals illustrativ. In der innerjüdischen Polemik gegen "Minim" (antirabbinische Juden, Häretiker) wurde nämlich auch mit der besonderen Verantwortung der Wissenden argumentiert: Tosefta XIII,5 erörtert die Frage, ob man sifrê mînîm (Schriftrollen von Häretikern) am Sabbat vor einem Brand retten darf. "Die giljônîm (Einzelblätter) und sifrê mînîm: man rettet sie nicht vor dem Brand, sondern läßt sie an ihrem Ort samt ihren Gottesnamen verbrennen. R. Jose ha-Galili sagte: Am Werktag schneidet man die Gottesnamen aus und verbirgt sie (rituell), und den Rest läßt man verbrennen. R. Tarfon sagte: Meine Söhne will ich einbüßen, wenn ich für den Fall, daß sie (diese Bücher) mir in die Hände geraten, sie nicht verbrenne, sie samt ihren Gottesnamen! Verfolgte mich ein Verfolger, würde ich einen Götzentempel betreten, nicht aber ihre Häuser. Denn die Götzendiener kennen Ihn (Gott) nicht und leugnen ihn, aber jene kennen Ihn und leugnen ihn ...".

Die Arbeit vermittelt einen soliden Überblick über Zeugnisse unmittelbarer christlicher Beschäftigung mit Lk 23,34, zugespitzt auf die Frage eines jeweils dahinter stehenden "Antijudaismus". Ungeachtet der Nützlichkeit solcher Informationen ist aber die Frage aufzuwerfen, was damit zum Verständnis der beiden Religionen beigetragen wird. Die jüdische Seite kommt ja nicht ins Blickfeld, auch das Literaturverzeichnis bestätigt dies, und daher müsste die öfters begegnende Wortverbindung "jüdisch-christlich" umgekehrt werden. Reicht es wirklich, "Antijudaismus" zu konstatieren, ohne den "Judaismus" zur Kenntnis zu nehmen? Das Judentum steht so als völlig abstrakte, geschichtslose und vom Alten Israel bis heute gleich bleibende Größe den konkreten "antijudaistischen" Aussagen und Aktionen gegenüber. Sein einziges Merkmal ist eine geradezu tabuisierte Positivität und Problemlosigkeit. Bei allen Verdiensten, die derartigen Untersuchungen zum christlichen "Antijudaismus" zuzusprechen sind, ist davor zu warnen, die Realität des Judentums in seiner historischen Tiefendimension, mit seinen Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Widersprüchen, und nicht zuletzt mit seinen vergleichbaren Problemen, als jeweiliges Gegenüber einfach auszuklammern.