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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

940–942

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Veijola, Timo

Titel/Untertitel:

Das fünfte Buch Mose. Deuteronomium. Kapitel 1,1-16,17. Übersetzt u. erklärt v. T. Veijola.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. X, 366 S. gr.8 = Das Alte Testament Deutsch, 8/1. Kart. Euro 56,00. ISBN 3-525-51138-8.

Rezensent:

Karin Finsterbusch

Der Autor des anzuzeigenden Buches, Timo Veijola, ist Professor für Altes Testament an der Universität Helsinki; durch zahlreiche Veröffentlichungen wurde er als Deuteronomium-Spezialist international bekannt. In der renommierten Göttinger Reihe ATD ist nunmehr der erste Teil (Dtn 1,1-16,17) seines auf zwei Bände angelegten Deuteronomium-Kommentars erschienen. V. bemerkt in seiner äußerst knapp gehaltenen Einleitung (1-6) zunächst, dass sich das Buch Deuteronomium in der Endgestalt "durchaus als Einheit lesen [lässt], die manche in ästhetischer und theologischer Hinsicht wertvolle Eigentümlichkeiten aufweist. Sie sollen während der Auslegung wahrgenommen und zur Sprache gebracht werden" (2). Vor allem sieht sich V. bei seiner Auslegung jedoch der literarhistorischen Methode verpflichtet: "Um jedoch die Tiefe und Vielfalt des Dtn voll zu erfassen, gilt es, auch der historisch bedingten Mehrschichtigkeit seiner Texte Rechnung zu tragen. Das Dtn stellt sich in literarhistorischer Betrachtung als ein komplexes Gebilde heraus, das seine fertige Gestalt im Verlaufe von einer etwa drei Hundert Jahre langen Entstehungsgeschichte erreicht hat ... Eine endgültige Stellungnahme zu allen anstehenden Problemen der Literargeschichte wird erst möglich, wenn das ganze Buch erklärt ist" (2). Angesichts des noch ausstehenden zweiten Teils sei der erste Teil nur knapp besprochen.

In der Einleitung legt V. seine Theorie der Entstehung des Deuteronomiums dar. Mit der Mehrheit seiner Kollegen und Kolleginnen geht er davon aus, dass dem Dtn ein aus der Zeit des Königs Joschija stammendes Reformgesetz zu Grunde liegt ("Ur-Dtn"). In Bezug auf das literarische Umfeld, in dem die weitere Entwicklung des Dtn nach Joschija erfolgte, entscheidet V. sich zu Gunsten der Möglichkeit, dass das Ur-Dtn in das Deuteronomistische Geschichtswerk (und nicht in den Hexateuch) eingebaut wurde. Nach V. deutet alles darauf hin, dass "der geschichtliche Rückblick Dtn 1-3 in seinem Kern auf den geschichtsschreibenden Deuteronomisten DtrH zurückgeht, der das joschijanische Ur-Dtn kurz nach der Rehabilitierung des Königs Jojachin 560 v. Chr. ... in bearbeiteter Form als Programmtext an den Anfang des von ihm geschaffenen Deuteronomistischen Geschichtswerks stellte" (3).

Nach V. wurde das Dtn wegen seiner hervorragenden Bedeutung nach DtrH zum Gegenstand zahlreicher deuteronomistischer und anderer Überarbeitungen, die sich über kürzere oder längere Teile des Textes erstrecken. In Bezug auf die "großen" deuteronomistischen Redaktionen nach DtrH rechnet V. mit dem "von Walter Dietrich 1972 entdeckten prophetischen DtrP" und dem "von Rudolf Smend 1971 entdeckten nomistischen DtrN" (4). Die große Leistung des DtrP bestehe darin, dass er den aus Ex 20 bekannten Dekalog als Zusammenfassung des göttlichen Willens auch in das Dtn integrierte (Dtn 5, 6- 21*) und ihn mit einem Rahmenbericht versah, in dem er Mose zu einem von Jahwe eingesetzten prophetischen Mittler zwischen Gott und Volk stilisierte. DtrN hingegen habe die von DtrP eingeführte Sicht weiter entfaltet, wobei er seinem nomistischen Grundsatz gemäß noch stärker den Akzent auf Mose als Ausleger und Lehrer der Tora gesetzt habe (4).

Eine noch bedeutendere Rolle als DtrP und DtrN spielt nach V. ihr "früh-nachexilischer Schüler", der von Christoph Levin 1985 eingeführte bundestheologische Deuteronomist (DtrB), der angefangen mit Dtn 4 sowohl die Paränese wie auch das Gesetz tiefgreifend bearbeitet und dem Deuteronomium seine heute noch prägende Gestalt verliehen habe. In formaler Hinsicht zeichnet sich DtrB nach V. einerseits dadurch aus, dass er für die Anrede Israels ohne Unterschied den Singular "du" wie auch den Plural "ihr" verwendet, was zu einem auffallenden Numeruswechsel geführt hat, und andererseits dadurch, dass er seine Texte gern in lockerer Anknüpfung an das Schema der altorientalischen Staatsverträge und Loyalitätseide gestaltet. Inhaltlich ginge es dem DtrB vor allem um das Erste Gebot als vornehmste Verpflichtung des Gottesbundes, von dessen Einhaltung das Wohl und Wehe des Gottesvolkes abhänge. V. nimmt an, dass es sich bei DtrB, DtrP und DtrN nicht um Einzelpersonen, sondern um kleine Gruppen von geistesverwandten Redaktoren handelt.

Der Hauptteil des Kommentars besteht aus der fortlaufenden Übersetzung der einzelnen Textabschnitte - wobei die von V. postulierten verschiedenen literarischen Schichten dadurch kenntlich gemacht werden, dass der jeweils älteste Text in Normalbreite erscheint und die sukzessiven Erweiterungen stufenweise eingerückt sind - und der anschließenden Kommentierung, wobei die Verse nicht fortlaufend, sondern nach literarischen Schichten geordnet ausgelegt werden. In den knapp gehaltenen Fußnoten finden sich Anmerkungen zur Übersetzung, zu textkritischen Entscheidungen, Sachinformationen und Literaturhinweise.

Die Kommentierung nach literarischen Schichten ist eine Stärke und Schwäche des Buches zugleich. Denn es gilt immer noch, was G. Braulik in Bezug auf die Genese des Buches Deuteronomium festhielt: "Das komplexe Aussagesystem des kanonischen Dtn lässt sich nur aus einer längeren Entstehungsgeschichte verstehen. Doch gibt es unter den Bibelwissenschaftlern über den Werdegang des Buches sehr divergierende Auffassungen. Es besteht nicht einmal Einmütigkeit über die Unterscheidungskriterien, die im Dtn für eine Literar- und Redaktionskritik gelten" (G. Braulik: Deuteronomium, in: E. Zenger u. a. [Hrsg.]: Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart u. a. 52004, 140).

Um das Problem zu verdeutlichen, sei als Beispiel auf V.s Auslegung von Dtn 4 verwiesen. V. leitet seine Kommentierung wie folgt ein: "Keine Einmütigkeit herrscht über das literarhistorische Werden des Textes. Als extreme Positionen stehen einander die Urteile von Mittmann und Braulik gegenüber. Jener führt die literarkritische Betrachtungsweise der älteren Kommentatoren konsequent weiter und zerlegt den Text in fünf verschiedene Schichten, während dieser, den Anregungen Lohfinks folgend, vor allem mit den Mitteln der Stilkunst und Rhetorik für die vollkommene Einheitlichkeit des ganzen Textes eintritt. Von dem methodischen Ansatz her, dem dieser Kommentar verpflichtet ist, erscheint es unmöglich, einen so heterogenen und wiederholungsreichen Text wie 4,1-40 als eine ursprüngliche literarische Einheit zu fassen" (97). Die Argumente V.s gegen die Einheitlichkeit des Textes überzeugen die Rezensentin jedoch nicht. Dies soll ein Einzelbeispiel verdeutlichen:

In Dtn 4 bildet laut V. der Vers 22 den Abschluss der von DtrN stammenden Grundschicht, "der jetzt durch eine Reihe von Erweiterungen von seinem ursprünglichen Kontext isoliert worden ist. Er hat jedoch seinen richtigen Ort unmittelbar hinter Vers 14, wo er begründet, warum Mose schon jetzt, jenseits des Jordan, die Satzungen und Rechte dem Volk mitzuteilen hat: weil er selber vor der Besitznahme des Landes sterben wird, die Israeliten hingegen in das schöne Land westlich des Jordan hineinziehen werden" (101). Gegen diese These spricht beispielsweise, dass der Ort der Promulgation in Vers 14 kein Thema ist, Vers 22 würde als Begründung in V.s Sinn an dieser Stelle also ins Leere laufen. M. E. steht die Aussage von Vers 22 durchaus im jetzigen Kontext am "richtigen Ort" - vor allem, wenn man, entgegen den üblichen Auslegungen, Vers 22 f. als Temporal-Bedingungssatzgefüge auffasst (vgl. R. Gomes de Araújo: Theologie der Wüste im Deuteronomium, Frankfurt a. M. 1999, 132 f.), das als solches inhaltlich in den kleinen Unterabschnitt Vers 21-24 gut eingebunden ist.

Vielleicht hätte der Kommentar gewonnen, wenn die durchaus anregenden und die Diskussion zweifellos bereichernden literarhistorischen Thesen V.s in den gewählten Formulierungen stärker als Thesen ausgewiesen und häufiger "Gegenproben" durchgeführt worden wären. Unbeschadet dieser Kritik und des eingangs im Kommentar von V. zitierten Ausspruchs Melanchthons ("Die Kommentare der Menschen sind in Sachen der heiligen Schrift wie die Pest zu fliehen") gebührt ihm Dank für den vorgelegten Band, der einmal mehr Lust zur intensiven Beschäftigung mit dem Buch Deuteronomium zu machen vermag.