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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

496 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Moeller, Bernd u. Karl Stackmann

Titel/Untertitel:

Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 383 S. gr.8 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Kl., 3. Folge, 220. Kart. DM 154.-. ISBN 3-525-82436-X.

Rezensent:

Armin Kohnle

"Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt?" So lautete der Titel einer schon 1984 im Archiv für Reformationsgeschichte veröffentlichten Skizze Bernd Moellers, in der erste Ergebnisse der Beschäftigung mit reformatorischen Predigten aus den zwanziger Jahren des 16. Jh.s vorgestellt wurden. Die lange angekündigte Monographie zum Thema liegt nun als Gemeinschaftsarbeit des Kirchenhistorikers Moeller und des Germanisten Karl Stackmann vor. Untersucht werden 35 Druckschriften von 26 Verfassern, in denen reformatorische Predigttätigkeit in spezifischer Weise dokumentiert ist. Herangezogen wurden ausschließlich Texte, die als Flugschriften verbreitet wurden, nachdem der Prediger seine Gemeinde hat verlassen müssen. Das bisher mündlich Vermittelte wird nun schriftlich und zusammengefaßt übergeben. Ziel der Untersuchung ist es, den "Durchschnitt der frühen reformatorischen Predigt in den Städten" (12) zu ermitteln. "Wir wollen wissen: was ist nach Ausweis dieser Schriften damals in den Städten gepredigt und wie sind diese Predigten zusammengefaßt worden, was bekamen die Leute damals zu hören und zu lesen?" (17).

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Teil 1 (19-196) behandelt die Quellen. Da nach Auffassung der Autoren eine Edition zu aufwendig und angesichts des relativ geringen Eigengewichts der Texte kaum lohnend gewesen wäre, werden ausführliche Inhaltsparaphrasen gegeben, die jeweils durch bibliographische Hinweise und Angaben zum Verfasser eingeleitet werden. Die Textpräsentation als Mischung aus Paraphrase, wörtlichem Zitat und einem Zählsystem, mit dem das Auffinden der Stelle im Original ermöglicht wird, ist als Kompromiß zwar akzeptabel, ersetzt aber nicht den Wortlaut. Daß sich das Zählsystem auch in den Fällen, in denen Texte in moderner Edition vorliegen (13 sind ganz, zwei teilweise neu ediert), auf einen der Originaldrucke bezieht, ist ein gewisser Mangel. Die Angaben zu den Verfassern, unter denen sich neben bedeutenden Persönlichkeiten wie Martin Bucer auch zahlreiche weniger bekannte Namen finden, beruhen ausschließlich auf der Literatur.

Der in vier Kapitel gegliederte zweite Teil (197-360) enthält die Auswertung der Quellen, wobei den Ergebnissen unterschiedliches Gewicht zuzumessen ist. Angesichts der geringen Zahl der berücksichtigten Personen, die lediglich eine "kleine Minderheit" (197) unter den Predigern der frühen Reformationszeit darstellen, können die Beobachtungen zu Verfassern und Adressaten (Kap. 1) kaum mehr sein als eine Vorarbeit oder ein Korrektiv zu dem Erfordernis breiter angelegter Untersuchungen. Bestätigt wurde die Dominanz der Geistlichen und der hohe Bildungsstand unter den reformatorischen Predigern in den Städten. Inwieweit sich aber die doch auf schmaler Basis gewonnenen Beobachtungen zu den autobiographischen Äußerungen, zu den Städten und den reformatorischen Gemeinden verallgemeinern lassen, wird weiterer Untersuchungen bedürfen. Kapitel 2 befaßt sich mit den Texten unter literargeschichtlichen Fragestellungen. Hier geht es, nachdem der Begriff "Flugschrift" erörtert und die Untergattungen "Reformationsflugschrift" und "lutherische Flugschrift" eingeführt worden sind, um die Mittel, mit denen die evangelische Botschaft den Menschen nahegebracht werden sollte. Allerdings sind die bis ins Detail des Satzbaus gehenden Analysen für Germanisten von größerem Interesse als für Historiker, Kirchenhistoriker und Theologen.

Die eigentliche inhaltliche Auseinandersetzung erfolgt in den Kapiteln 3 (300-350) und 4 (351-360), denen zentrale Bedeutung zukommt. Kapitel 3 stellt unter den Überschriften "Eschatologische Konfrontation", "Wort Gottes und Evangelium, Glaube und Rechtfertigung", "Die Kirche des Papstes" und "Die rechte Kirche, das christliche Leben" die theologischen Aussagen der Predigten vor. Kapitel 4 versucht eine allgemeinere Bewertung der theologischen Inhalte. Als charakteristisch für die frühen reformatorischen Predigten erscheinen demnach erstens ihre inhaltliche Homogenität: "In den theologischen Hauptaussagen, den entscheidenden Argumentationen und den wichtigsten Pointen stimmen unsere Texte überein" (351). Zweitens konzentrieren sich die Prediger auf einen Ausschnitt der Theologie, nämlich die Probleme der Zuwendung und Aneignung des Heils. In der Rechtfertigungslehre wie in anderen Fragen besteht ein reformatorischer Konsens. Das bedeutet im Falle der untersuchten Texte drittens eine weitgehende Übereinstimmung mit der Theologie Martin Luthers. "Extreme Standpunkte der Reformation, wie etwa Hutten oder Müntzer sie vertraten, fehlen in unseren Schriften" (352). Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit Luther und untereinander findet schließlich viertens seinen deutlichsten Ausdruck in der Selbstbezeichnung "evangelisch".

Das einheitliche Bild der untersuchten Predigten, für die Verfasser "ein Niederschlag der durchschnittlichen, der normalen städtischen Predigt der Zeit" (357 f.), läßt nach ihrer Ansicht Zweifel aufkommen an der von Franz Lau geprägten Vorstellung vom "Wildwuchs der Reformation", die zu ersetzen sei durch die Annahme eines theologischen Grundkonsenses unter den frühen Predigern. Auch die Vorstellung, daß nicht Luthers Theologie, sondern seine Kirchenkritik für seinen Erfolg verantwortlich gewesen sei, finden die Autoren nicht bestätigt. Anziehend sei vielmehr gewesen, daß "die Kirchenkritik von der Rechtfertigungslehre her neu gedacht und begründet wurde" (359). Als weiteres Ergebnis ist schließlich festzuhalten, daß in der Frühzeit der Reformation eine "evangelisch-städtische Normaltheologie" (360) existierte, die sich erst in späterer Zeit ausdifferenzierte.

Die Untersuchung regt dazu an, der Frage, was in der Frühzeit der Reformation gepredigt wurde, auf einer breiteren Quellenbasis, die nicht auf gedruckte und deutschsprachige Predigtsummarien beschränkt bleibt, erneut nachzugehen. Stärker herangezogen werden müßten dabei Texte aus dem niederdeutschen und schweizerischen Raum, ländliche Gebiete wären ebenso zu berücksichtigen wie Vertreter nichtlutherischer Standpunkte und Nachrichten über die Rezeption reformatorischer Predigt.