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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

928 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Hartmut Stegemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Qumran kontovers. Beiträge zu den Textfunden vom Toten Meer. Hrsg. unter Mitarbeit v. M. Becker u. A. Maurer.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 2003. 200 S. 8 = Einblicke, 6. Kart. Euro 15,40. ISBN 3-89710-205-6.

Rezensent:

Jürgen Zangenberg

Wohl wenige andere Felder der Bibelwissenschaft bieten derart fruchtbare und kontroverse Debatten wie die Qumranforschung. Die elf Beiträge, basierend auf Referaten, die im Oktober 1998 auf einer Tagung der Katholischen Akademie Schwerte gehalten wurden, greifen einige dieser Problemfelder auf. Die kontroverse Situation der aktuellen Qumranforschung wird durch die paarweise Anordnung der Beiträge besonders gut deutlich.

Das erste Artikelpaar widmet sich dem Charakter der antiken Essenerberichte und ihrem Verhältnis zu den Textfunden von Qumran. In seiner Untersuchung des historischen Werts der einschlägigen Passagen von Philo und Josephus (11-22) warnt Roland Bergmeier davor, diese einfach als "Primärinformationen" einer lebendigen Wirklichkeit zu sehen. Sowohl die inhaltliche Nähe als auch Ferne zu den "Selbstzeugnissen der Qumrangemeinde" (welche immer dies auch sein mögen, bleibt im Beitrag vage) müssen auf dem Hintergrund der verarbeiteten Quellen verstanden werden, was den historischen Wert der Berichte deutlich einschränkt. Jörg Frey weist in seinem korrespondierenden Beitrag (23-56) auf die Schwächen literarkritischer Operationen wie der Bergmeiers hin und hält daran fest, dass die antiken Essenerberichte trotz ihrer interpretatorischen Absicht und die Texte des yachad (die Frey recht schnell als konstitutiv für das Qumrankorpus reklamiert) ein und dieselbe Gruppierung im Blick haben.

Armin Lange und Charlotte Hempel diskutieren in ihren beiden Beiträgen die grundlegende Frage nach den Kriterien für essenische Texte (59-69 bzw. 71-85). Während Lange synchron die inhaltlichen Kriterien aufzählt, die einen Text als essenisch bzw. nichtessenisch erweisen, bringt Hempel das Moment der Entwicklung und damit der Rezeption "fremden Guts" durch die Trägergemeinschaft der Texte in die Betrachtung ein. Als entscheidendes Kriterium nennt Hempel die Nähe oder Ferne zur gemeindespezifischen Terminologie der Serekh (1/4QS-Material). Andere, inhaltlich gefüllte Kriterien reichen zur Identifikation nicht aus, da diese Traditionen auch aus "voressenischem Erbe" stammen können. Hempels wichtige Diskussion der Begriffe "qumranisch", "essenisch" und "sectarian" demonstriert eindrücklich, wie sehr unsere Überlegungen von mehr oder minder impliziten Voraussetzungen abhängig sind - nicht zuletzt ihre eigenen.

Lutz Doering und Annette Steudel greifen zwei Bereiche qumranischer Halacha auf und leisten so einen wichtigen Beitrag zur religionsgeschichtlichen Verortung der Schriftrollen innerhalb des antiken Judentums (89-113 bzw. 115-124). Doering arbeitet den dezidiert priesterlichen Charakter religionsgesetzlicher Traditionen im Qumrankorpus heraus und skizziert deren Hauptelemente. Steudel untersucht kritisch die Indizien für Ehelosigkeit bei den Essenern und kommt auf der Basis von CD VII und XIX zu dem Ergebnis, dass in der Tat zeitgleich verheiratete und unverheiratete Mitglieder in der Gruppe gelebt haben. Für eine temporäre eheliche Enthaltung finden sich nach Steudel andererseits keine Belege.

Ulrich Dahmen und Odil Hannes Steck widmen sich der Rezeption biblischer Bücher in der Bibliothek von Qumran (4. Abschnitt, 127-146 und 147-156). Dahmen setzt sich mit der von Peter W. Flint geäußerten Annahme unterschiedlicher Psalter-Editionen in Qumran kritisch auseinander. Die vom MT abweichenden Manuskripte seien - in Anlehnung an Heinz-Josef Fabry - als "Psalmen- aber nicht Psalterrollen" zu verstehen, was als Zwischenergebnis freilich etwas unbefriedigend ist, solange diese methodisch wichtige Distinktion nicht an den Texten selbst aufgewiesen wird. Steck geht im Anschluss an umfangreiche Vorarbeiten der Frage nach, welche Konsequenzen sich hinsichtlich von Lese(r)lenkung und inhaltlicher Akzentsetzung bereits aus der Paragraphen-Einteilung von 1QIsa ziehen lassen. So wird Manuskriptkunde zu einem faszinierenden Kapitel der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte biblischer Bücher. Ferdinand Rohrhirsch und Heinz-Josef Fabry diskutieren eines der kontroversesten Themen der Qumranarchäologie: die Friedhöfe (159-171 bzw. 173-191). Dabei kommen sie zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der methodisch verantwortbaren Weise, wie man Feldbefund und Textbefund in Beziehung setzen kann. Abschließend bietet Armin Lange mit seinem Beitrag "Zwei Fragmente aus Höhle 4 von Qumran: 4Q440b und 4Q468i" ein instruktives Beispiel für die stetig voranschreitende Edition der Qumran-Fragmente (195-199).

Gerade angesichts der oft hektischen Betriebsamkeit der Qumranforschung und trotz des Fortschritts bei der Publikation insbesondere der archäologischen Daten (s. besonders den von J.-B. Humbert und J. Gunneweg herausgegebenen Band "Qumran II", vgl. die Rezension in ThLZ 139 [2005], 626) lohnt sich die Lektüre des Bandes immer noch. Die Beiträge widmen sich zentralen Bereichen, die auch in der Zukunft die Qumranforschung bestimmen werden. Schade ist nur, dass dem Band - wie leider vielen neueren Tagungspublikationen - kein Register beigegeben ist.