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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

924–926

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Berthelot, Katell

Titel/Untertitel:

Philanthrôpia judaica. Le débat autour de la "misanthropie" des lois juives dans l'Antiquité.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. X, 441 S. gr.8 = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 76. Lw. Euro 125,00. ISBN 90-04-12886-7.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Was brachten antike Autoren, die das Judentum der Menschenfeindlichkeit bezichtigten, hierfür an Gründen vor, und mit welchen Argumenten setzten sich jüdische Apologeten gegen diesen Vorwurf zur Wehr? Das sind die beiden Leitfragen der angezeigten Untersuchung, mit der K. Berthelot ein Kernstück ihrer an der Sorbonne bei M. Hadas-Lebel eingereichten Doktorarbeit vorlegt.

Eine erste wichtige Erkenntnis vermittelt bereits ein knapper Überblick über den allgemeinen Sprachgebrauch (Kapitel 1): Die Behauptung jüdischer Menschenfeindlichkeit ist eine Ausnahmeerscheinung, denn gewöhnlich wird misanthropia an Individuen und individuellen Verhaltensweisen diagnostiziert, nicht an Völkern und ihren Gesetzen. Auch philanthropia wird nicht Völkern zugeschrieben, sondern bevorzugt einzelnen Herrschern und Mächtigen, wenn auch meist solchen, die dem griechischen Kulturkreis angehören.

Zu einer zweiten grundlegenden Einsicht führt ein Durchgang durch einschlägige pagane Darstellungen des Judentums (Kapitel 2): Auch wenn seit Hekataios von Abdera (um 300 v.Chr.) im Zentrum solcher Darstellungen häufig die aus ägyptischer Sicht erzählte Geschichte von der Genese des jüdischen Volks durch eine Vertreibung aus Ägypten steht, so ist doch die damit verbundene Behauptung jüdischer Misanthropie im Wesentlichen ein griechisches, kein ägyptisches Thema. Die tragenden Wertmaßstäbe sind griechische; das Kontrastprogramm im Hintergrund ist das stoische Ideal eines Weltbürgertums, mit dem sich jüdische Speisetabus und die jüdische Ablehnung fremder Kulte nicht vereinbaren lassen. Nach B. ist es darum auch kein Zufall, dass mit der Ablösung der Stoa durch den Neuplatonismus das Klischee von der jüdischen Misanthropie aus der Literatur verschwindet.

Wenn Hekataios den apanthropos kai misoxenos bios der Juden als Reaktion auf ihre zuvor erlittene Vertreibung aus Ägypten erklärte, dachte er dabei nicht an Grausamkeit, sondern an die Absonderung von Fremden, wie er sie am Judentum Alexandrias beobachtet haben mag. Als Grieche urteilend sah er in den Juden gleichsam die Spartaner der Barbaren. Bei den Erwähnungen von Mose, Judäa und Jerusalem im Werk des Manetho handelt es sich größtenteils um Interpolationen, die auf das Judentum alte ägyptische Klischees von grausamen asiatischen Invasoren und der gottlosen Amarna-Zeit projizieren. Bereits unter dem Eindruck der hasmonäischen Eroberungszüge steht die Schilderung der israelitischen Landnahme bei Lysimachos, der Mose nicht nur ein Verbot von Hilfsbereitschaft gegen Fremde, sondern auch einen Befehl zur Zerstörung von Kultstätten zuschreibt und die Niedertracht der Juden auf Gottlosigkeit zurückführt. Charakteristisch für Poseidonios (den B. als Quelle u. a. für Strabon, Geogr. XVI 2,34 ff. ausmacht) ist die Vorstellung von einer frühen Degeneration des Judentums: Was er an ihm gutheißt, wie die bilderlose Gottesverehrung und den schlichten Tempelkult, schreibt er Mose zu, während er Speisetabus und Beschneidung als Neuerungen von dessen abergläubischen Nachfolgern betrachtet. Zur Kulmination kommen die Ressentiments gegen Speisegesetze und Monotheismus in dem von Apion kolportierten Schauermärchen vom alljährlichen Ritualmord an einem Griechen. In der römischen Literatur taucht das Klischee von den menschenfeindlichen jüdischen Sitten erst seit Ende des 1. nachchristlichen Jh.s auf. Begünstigt durch den jüdischen Krieg findet es sich in voller Ausprägung bei Tacitus, der das Judentum noch schärfer verurteilt als die Germanen, und bei dem überhaupt alles Orientalische verachtenden Juvenal. Zu Beginn des 1. Jh.s hatte dagegen noch Pompeius Trogus, wie einst Hekataios, die jüdische Absonderung von Fremden wertneutral mit der Verbannung aus Ägypten erklärt.

Jüdische Reaktionen auf den griechischen Misanthropie-Vorwurf arbeitet B. im Aristeasbrief, im 2. und 3. Makkabäerbuch, in der Weisheit Salomos (Kapitel 3), bei Philon von Alexandrien (Kapitel 4) und bei Josephus Flavius (Kapitel 5) heraus. Das weitaus differenzierteste und von B. mit besonderer Akribie und Hingabe nachgezeichnete Bild bietet das philonische uvre, vor allem in Virt. 51-174, etwas knapper in Hypoth. 7,6-9.

Philon setzt dem Vorwurf jüdischer Menschenfeindlichkeit emphatisch die These der philanthropia des Judentums entgegen, die er sowohl bei den biblischen Erzeltern als auch im mosaischen Gesetz vorfindet. Hinderlich scheint, dass die biblischen Einzelgebote Güte und Rücksicht nicht prinzipiell gegenüber allen Menschen, sondern jeweils gegenüber einzelnen Gruppen fordern, angefangen von den freien Israeliten über Sklaven und Fremde bis hin zu Kriegsgegnern, außerdem für den Umgang mit Tieren und Pflanzen. Philon lässt sich dadurch aber nicht beirren, sondern zeigt in Virt. 80 ff. die philanthropia des Gesetzes reihum für jeden dieser Sachbereiche auf. Allerdings vermag der Aufweis von Menschenfreundlichkeit im Umgang von Juden untereinander den Misanthropie-Vorwurf kaum zu widerlegen; eher scheint er den Eindruck eines jüdischen Separatismus zu verstärken.

Ähnlich problematisch sind Gebote, die das Verhalten gegenüber Fremden betreffen, da Philon unter dem ger den Proselyten und unter dem ger toschav den zur Konversion strebenden Sympathisanten versteht; das Angebot der Konversion aber hätten antike Judenfeinde kaum als einen Ausdruck von Philanthropie akzeptiert. Als implizites Analogon zur jüdischen Aufnahme von Proselyten könnte Philon jedoch die Praxis der Verleihung des Staatsbürgerrechts im Blick gehabt haben, wie sie in Rom zwar großzügig, von griechischen Poleis dagegen, auch an jüdischen Konversionsregeln gemessen, sehr restriktiv gehandhabt wurde. "De manière plus directe" (285) kann Philon den Misanthropie-Vorwurf anhand von Geboten entkräften, die zur Schonung von Kriegsgegnern und zur Hilfsbereitschaft gegenüber feindlichen Nachbarn anleiten. Auch Gebote über den rücksichtsvollen Umgang mit vernunftlosen Lebewesen eignen sich zum Aufweis von philanthropia, da sich von ihnen durch Analogie, Allegorese oder a fortiori auf den Umgang mit Menschen schließen lässt.

Während es auf den ersten Blick so scheint, als messe Philon die biblischen Gebote am Maßstab der Humanität, so verhält es sich nach B. in Wirklichkeit umgekehrt: Die Tora gibt ihm vor, was er unter Humanität versteht. So kann er z. B. die philanthropia eines Priesters, der seine heilige Speise mit Laien teilt, nur als unschicklich beurteilen, Spec. I 120. Nach seinem Verständnis von Dtn 23,2-9 erstreckt sich menschenfreundlicher Umgang mit Nichtjuden weder auf Polytheisten noch auf Atheisten; "d'un point de vue apologétique" aber wäre eine misslichere Haltung kaum denkbar (317). So bleibt bei ihm die Spannung zwischen dem Partikularismus der Tora und einem universalen Menschheitsethos letztlich ungelöst.

Diese Einsicht, auf die B.s Analyse konsequent zuläuft, legt freilich die Rückfrage nahe, ob nicht Philon dem Misanthropie-Vorwurf faktisch weit geringere Aufmerksamkeit schenkt, als B. es sich von Stellen wie Virt. 141 suggerieren lässt. Könnte es nicht sein, dass er unter dem doppelten Einfluss von jüdischer und griechisch-philosophischer Tradition ein von judenfeindlichen Anwürfen im Grunde unabhängiges Konzept von mosaischer Philanthropie entwickelt? Bei Lichte besehen zeigt ja seine erwähnte Auslegung von Dtn 23, wie sehr er auch den Bibeltext seinen eigenen Vorstellungen zu unterwerfen weiß.

Dass man an einem Punkt wie diesem auch anders urteilen kann als B., schmälert freilich das Verdienst ihres Buches nicht im Geringsten. Es brilliert durch eine umfassende, souverän gehandhabte Kenntnis des antiken Textmaterials, analytischen Scharfblick und eine gründliche Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur (wobei es sich übrigens erstaunlich aufgeschlossen für quellenkritische Operationen zeigt).

Bedingt durch die Vielseitigkeit des Gegenstands und B.s Kenntnisreichtum, verläuft der rote Faden mitunter in Windungen, aber gerade dadurch ergeben sich oft unvermutete (wenn auch bedauerlicherweise nicht durch ein Sachregister erfasste) thematische Querverbindungen, die dieses Buch zu einer nicht nur lehrreichen, sondern auch höchst anregenden Lektüre machen.