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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

913–915

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Handbuch der Kulturwissenschaften. 3 Bde.

1) Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hrsg. v. F. Jaeger u. B. Liebsch.

2) Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen. Hrsg. v. F. Jaeger u. J. Straub.

3) Bd. 3: Themen und Tendenzen. Hrsg. v. F. Jaeger u. J. Rüsen.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 2004.

1) XIV, 538 S. gr.8. Geb. Euro 59,95. ISBN 3-476-01881-4.

2) XIV, 694 S. gr.8. Geb. Euro 59,95. ISBN 3-476-01958-6.

3) XIV, 551 S. gr.8. Geb. Euro 59,95. ISBN 3-476-01959-4

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Wer die gegenwärtige Lage der Kulturwissenschaften beurteilen will, muss mit widersprüchlichen Eindrücken rechnen. Auf der einen Seite stehen Verunsicherung und Rechtfertigungsdruck; drittmittelorientierte Universitätsplanung und explizite Profitorientierung führen zu Ausdünnung und Ornamentalisierung. Auf der anderen Seite findet man Deutungs- und Orientierungsansprüche gesellschaftlicher Wirklichkeit, die sich auch den Herausforderungen stellen, die mit den zum Teil als Sinnangebote rezipierten Geltungsansprüchen der empirisch-szientistischen Disziplinen verbunden sind. Traditionelle Selbstbezüglichkeiten werden längst kritisch reflektiert. Im Umfeld des hinreichend unscharfen Begriffs Kultur und seiner von vielen Beteiligten mit Überlebenshoffnungen begleiteten Karriere ist zu beobachten, dass Fragen gesellschaftlicher Relevanz und zukunftsfähiger Orientierung an Bedeutung gewinnen und die überkommenen Diskurse neu ordnen.

In jüngster Zeit erschienen einige Veröffentlichungen, in denen vor diesem Hintergrund eine Standortbestimmung der Kulturwissenschaften versucht wird (vgl. z. B. Anderegg, J., Kunz, E. A. [Hrsg.], Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven, 1999; Böhme, H., Matussek, P., Müller, L., Orientierung Kulturwissenschaft, 2000; Nünning, A., Nünning, V. [Hrsg.], Konzepte der Kulturwissenschaften, 2003; Fauser, M., Einführung in die Kulturwissenschaft, 2003).

Nun ist ein dreibändiges Handbuch anzuzeigen, das auf Vorarbeiten zurückgeht, die 1997 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen begannen. Es bildet mit seiner programmatischen Dialogizität und Pluralität sowie seiner prospektiven Zusammenschau die gegenwärtige Lage der Kulturwissenschaften als Aufbruchssituation ab. Es ist deshalb kein Mangel, sondern ein bei umfangreichen Handbüchern seltener Vorzug, dass nicht nur konventionalisierte Paradigmen kulturwissenschaftlicher Arbeit, sondern auch absehbare Entwicklungstendenzen und Neuansätze thematisiert werden. Ein bedauerlicher Mangel ist jedoch zu benennen: Jedem Band ist zwar ein Verzeichnis der insgesamt fast 100 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie jedem Beitrag ein einschlägiges und aktuelles Literaturverzeichnis angefügt, es fehlen jedoch jegliche Indizes. Die Arbeit mit diesem Handbuch ist für den raschen Informationsbedarf zu bestimmten Fragen auf Recherchen innerhalb der zum Teil umfangreichen Artikel angewiesen. Das ist ein auch im Blick auf die naturgemäßen Überschneidungen und sachlichen Konvergenzen bedauerliches Desiderat, das mit einer Neuauflage hoffentlich behoben werden kann.

Das Handbuch enthält 15 in jeweils mehrere Einzelbeiträge untergliederte Kapitel und einen Ausblick (Jörn Rüsen, Sinnverlust und Transzendenz - Kultur und Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts, 3, 533-544). Die unterschiedlichen Aufgaben der einzelnen Bände werden von den Herausgebern einführend erläutert und aufeinander bezogen. Sie verdanken sich einem klar erkennbaren Programm kulturwissenschaftlicher Arbeit und sind stringent aufeinander abgestimmt. Band 1 erläutert und diskutiert Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Band 2 führt Paradigmen und Disziplinen vor, Band 3 diskutiert Themen und Tendenzen.

Band 1 (hrsg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch) enthält sechs Kapitel; sie sind den thematischen Stichworten Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung, Identität und Geschichte gewidmet. Diese Grundlegung dient dazu, reflektierte Zugriffe auf das Phänomen Kultur zu ermöglichen und die Situation zu sondieren, in der sich die Kulturwissenschaften gegenwärtig befinden. Bereits hier wird - ähnlich wie in den Bänden 2 und 3 - einerseits ihre programmatische kulturelle und gesellschaftliche Kontextualität und andererseits ihre relative Uneinheitlichkeit, die sich gegenwärtig in markanten Schwerpunkten und erkennbaren Desideraten zeigt, deutlich. Dieses Profil macht einen der großen Vorzüge des Handbuchs aus. Es bietet nicht nur gelungene Einführungen mit einschlägigen Informationen, sondern ist zugleich ein inspirierendes Reflexionsinstrument der kulturwissenschaftlichen Selbstverständigung und Perspektivendiskussion. Zu seinen Vorzügen gehört auch, dass es Transdisziplinarität nicht auf den Bereich der Kulturwissenschaften beschränkt, sondern den konstruktiven Dialog mit anderen Disziplinen aufnimmt.

Band 2 (hrsg. von Friedrich Jaeger und Jürgen Straub) enthält fünf Kapitel. Sie geben Aufschluss über grundlegende Dialogsituationen der Kulturwissenschaften und ihre Bedeutung für die wissenschaftstheoretische Grundlegung, Methodenreflexion und ihr (trans-)disziplinäres Selbstverständnis. Dabei werden sowohl eingeführte Disziplinen berücksichtigt als auch neue Ansätze kulturwissenschaftlichen Arbeitens gezeigt. Es wird hinreichend deutlich, dass "Kultur nicht als etwas schlechterdings Vorfindbares, als factum brutum zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Erkenntnis werden kann, sondern stets im Zuge theoretischer Konzeptualisierungen und methodisch-empirischer Zugänge thematisch wird" (2, IX). Der Band dokumentiert einen Diskussionsstand, der Fragen der gesellschaftlichen Legitimierung kulturwissenschaftlicher Forschung umkreist. Es geht um das Verhältnis von Kulturwissenschaften und Lebenspraxis (Kapitel 7), um Grundlegende wissenschaftliche Problemstellungen (Kapitel 8), um handlungs- und sprachtheoretische Ansätze (Kapitel 9 und 10) sowie um die Präsenz kulturwissenschaftlicher Ansätze in einzelnen Disziplinen wie Politologie, Ethnologie und Kulturanthropologie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Literaturwissenschaften, Theologie und Philosophie (Kapitel 11).

Band 3 stellt in vier Kapiteln Themen und Tendenzen der Kulturwissenschaften vor. Zunächst werden Brennpunkte einer kulturwissenschaftlichen Interpretation der Kultur benannt (Kapitel 12; theologisch relevant z. B. die Bezüge auf Religion [12.2, Burkhard Gladigow], Natur [12.5, Franz-Josef Brüggemeier], Leiblichkeit [12.6, Eva Labouvie], Erinnern und Verdrängen [12.7, Mario Erdheim], Traumaforschung [12.8, Wulf Kansteiner], Gedächtnis und Erinnerung [12.10, Harald Welzer]); anschließend geht es um die Themenbereiche Wirtschaft und Kapitalismus (Kapitel 13), Gesellschaft und kulturelle Vergesellschaftung (Kapitel 14), Politik und Recht (Kapitel 15).

Das Handbuch stellt implizit und explizit die Frage, worin die Zukunftsfähigkeit der Kulturwissenschaften besteht. Die Theologie wird sich dieser Frage nicht entziehen können. Sie hat ihre Gegenstände nicht nur neutral zu beschreiben bzw. historisch zu erklären, sondern Gesellschaft, Kultur, Religion mitzugestalten und weiterzuentwickeln. Sie nimmt in diesen Kontexten elementare Tradierungs-, Interpretations- und Fortschreibungsaufgaben wahr und bestimmt so ihr Verhältnis zu den Kulturwissenschaften. Es ist aufschlussreich zu sehen, dass ein auf religionswissenschaftliche Studien reduziertes Verständnis von Theologie der Aufgabenbeschreibung, wie sie den Kulturwissenschaften in diesem Handbuch zugedacht wird, keineswegs entsprechen würde. Vielmehr ist zu fragen, welche Bedeutung eine kulturwissenschaftliche Orientierung für theologische Fragestellungen, Methodik und Ergebnisse hat - wie sich also der spezifisch theologische Beitrag in kulturwissenschaftlichen Kontexten artikulieren kann. Die Kulturwissenschaften stellen für alle theologischen Disziplinen eine nicht nur wissenschaftstheoretische Herausforderung dar, die höhere Aufmerksamkeit verdient. Das Handbuch zeigt, wie die reflektierte Wahrnehmung von Beschreibung, Orientierung und Kritik die Zukunft der Kulturwissenschaften bestimmen wird. Sie haben eine nicht delegierbare Verantwortung übernommen.