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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

836 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Genre, Ermanno

Titel/Untertitel:

Il culto cristiano. Una prospettiva protestante.

Verlag:

Torino: Claudiana 2004. 259 S. m. Abb. 8 = Piccolo biblioteca teologica, 66. Kart. Euro 19,50. ISBN 88-7016-466-7.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Stellt die evangelische Kirche in Italien eine Minderheit dar, so ist es dem Autor, Professor für Praktische Theologie an der Waldenserfakultät in Rom, gelungen, ein knappes liturgisches Lehrbuch aus evangelischer Sicht, aber mit deutlich erkennbaren ökumenischen Bezügen zu verfassen. Denn es geht G. neben der diakonischen Verantwortung in der Liturgie (hier ist sein besonderes Engagement spürbar) auch um die eucharistische Gastfreundschaft. Wenn in der Enzyklika "Ecclesia de Eucharistia" von den "Schatten" durch gemeinsame Eucharistiefeiern gesprochen werde, dann merkt G. treffend an, dass sich für den im ökumenischen Dialog Engagierten derlei "Schatten" seit vielen Jahren als Zeichen des Lichts erwiesen haben (130). Durchgängiges Thema ist auch die Erweiterung eines zu engen verbalen Kommunikationsstils im evangelischen Gottesdienst (78). Die theologische Bedeutung der Einheit von Wort und Sakrament wird stark betont, womit eine deutliche Parallele zur Liturgiekonstitution des 2. Vatikanums (SC 35.52) gegeben ist: Auch im evangelischen Gottesdienst dürfe die eucharistische Liturgie nicht als unorganischer Anhang erscheinen, den man genauso gut weglassen könnte (129).

Anders als man es von einer reformierten Liturgik erwartet, beginnt das Buch (ähnlich wie das ebenfalls 2004 erschienene Lehrbuch von K.-H. Bieritz) nicht mit der Geschichte, sondern mit Abschnitten zur liturgischen Zeit und zum Raum, zur Musik und Kunst. In diesem ersten Teil ("L'integrazione di tempo e spazio, tradizione e innovazione", 11-89) werden die grundlegenden Fragen gestellt, bevor im zweiten Hauptteil die Elemente des reformierten Gottesdienstes in der Abfolge der Sonntagsliturgie beschrieben werden ("Gli elementi costitutivi del culto cristiano riformato", 91-145). Im dritten Teil schließlich werden wichtige Bezugspunkte der Liturgie thematisiert: Ritualforschung und andere Humanwissenschaften, neue Technologien und Medien und die damit gegebene Veränderung der Rezeptionsgewohnheiten, diakonische und therapeutische Aspekte und die Fragen der Weltverantwortung und Ethik im Kontext des Gottesdienstes ("Liturgia: Articolazione e prospettive", 147-215). Hier nimmt der deutsche Leser z. B. interessiert zur Kenntnis, dass Soziologen in Italien vor nicht allzu langer Zeit (wegen der erreichten psychiatrischen Fortschritte) definitiv das Ende der vormodernen Religionsphänomene (z. B. Vorstellungen von Teufelsbesessenheit) prophezeiten, aber inzwischen eines Besseren belehrt wurden (193).

Im Anhang des Buches werden schließlich Auszüge aus verschiedenen Liturgien geboten (neben der Liturgie der Waldenser in Italien u. a. reformierte Liturgien in Deutschland, Frankreich und der Schweiz sowie die Lima-Liturgie, jeweils in italienischer Übersetzung).

Um den Ansatz des Buches kurz zu charakterisieren, kann man zu drei Stichworten greifen: Vielstimmigkeit - Inszenierung - Diakonie. Die Vielstimmigkeit und Einheit der Liturgie wird vom Priestertum der Glaubenden her bestimmt ("Polifonia e sinfonia del culto", 97-100). Vielstimmigkeit aber muss nicht bedeuten, dass im evangelischen Gottesdienst alle das Wort ergreifen. Und die Einheit darf nicht bedeuten, dass der Gottesdienst eine selbstgenügsame und selbstbezügliche Kirche zur Darstellung bringt, die sich selbst für das Maß aller religiösen Dinge hält ("che conosce soltanto la propria melodia", 100). Auch einer kulturpessimistischen Technologiefeindlichkeit wird später eine klare Absage erteilt (172).

Die Kategorie der Inszenierung ("messa in scena") wird aus der deutschen Diskussion übernommen. Trotz der bekannten Kritik Calvins an theaterhaftem liturgischen Pomp und trotz der vielfachen medialen Inszenierungen der Gegenwart handele es sich um eine sachgemäße Reflexionskategorie, eben weil es keinen Gottesdienst ohne den Aspekt der Inszenierung gebe. Die künstliche Dichotomie zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit in der protestantischen, besonders in der reformierten Kultur könne gerade mit der Kategorie der Inszenierung zu Bewusstsein kommen und damit leichter überwunden werden (144). In Aufnahme der semiotischen Debatte in der Liturgik wird dann allerdings etwas zu schnell festgestellt, dass eine theologische Zeichentheorie mit Calvin und Zwingli "im klaren pneumatologischen Horizont" stehen müsse (167). Damit werden nach meiner Ansicht die grundlegenden Probleme (wie etwa die Grenzen des Zwinglischen Zeichenbegriffes) nicht zureichend beschrieben. Denn semiotisch muss ja auch die Kategorie des Geistes als Zeichen interpretiert werden, womit sich die Fragen erneut stellen.

Die Diakonie als Bezug der Liturgie führt auf das prophetische Element und auf das Thema der Gerechtigkeit: Die diakonische Dimension, so G., muss sich auf das Ganze der Liturgie beziehen und nicht nur beim Einsammeln der Kollekte spürbar sein (133). Ein privatistisches Verständnis (etwa der Taufe, 111) wird damit zurückgewiesen und auch Gesundheit und Krankheit werden als nicht allein private, sondern als gemeindliche und liturgische Fragen geltend gemacht (197). Diakonie, Liturgie und politische Bewusstseinsbildung gehören zusammen. In diesem Kontext ist mit starken Worten von der "perversen" weltweiten Ökonomie der Gegenwart die Rede (184) und es wird angemerkt, dass die Eucharistie ohne Effekt bleibe, wenn sie sich nicht im diakonischen Handeln gegenüber der Welt auswirkt (187). Bei derlei steilen Sätzen ist allerdings zu fragen, was denn genau im liturgischen Zusammenhang unter dem vieldeutigen Begriff "Effekt" verstanden werden soll. Streiten möchte man mit G. auch über die (im Gespräch mit Lévinas entwickelte) Formulierung, dass die Zielvorstellung ("finalità") der Liturgie letztlich von der Tat (bzw. von der Ethik) her zu bestimmen ist (210), wobei allerdings zuvor treffend festgestellt wurde, dass die christliche Ethik immer nur als ein sekundärer - dem primären Dienst Gottes am Menschen nachgeordneter - Akt verstanden werden kann (209).

Mein Fazit: G. legt eine Liturgik vor, in der der historische Stoff - der bekanntlich nie erschöpfend zu behandeln ist - ganz zu Gunsten der praktisch-theologischen Aspekte zurückgestellt ist. Hier wundert man sich, wie sehr G. nicht nur mit der italienischen, sondern auch mit der französischen und besonders mit der deutschen Literatur vertraut ist. Nahezu alle wichtigen deutschen evangelischen Publikationen der letzten Zeit sind herangezogen (wie Bieritz, Grethlein, Josuttis, Schmidt-Lauber, Volp und besonders intensiv Gottesdienst evangelisch reformiert von Ralph Kunz [Zürich 2001]). Insofern handelt es sich auch um einen Brückenschlag zwischen der italienischen und deutschen Diskussion. G. hat eine gut lesbare, semiotisch inspirierte und diakonisch engagierte evangelische Liturgik geschrieben, welche den internationalen und interkonfessionellen Austausch über die aktuellen Fragen gewiss vorantreiben wird.