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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

833–836

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Ottmar

Titel/Untertitel:

Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2004. 480 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 57. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-17-017353-7.

Rezensent:

Eberhard Winkler

"Der Wahrheitsgehalt der Bibel (als norma normans) kann nicht dem Erfahrungsgehalt der Rezeption unterworfen werden, aber er kann noch so viel Autorität beanspruchen: Wenn er nicht zur Lebensgestaltung wird, hat er sein Ziel, sich in der Existenz der Menschen zu bewahrheiten, verfehlt" (27). Dieser Satz aus dem Einführungskapitel erklärt den Titel und fasst die Intention des Buches zusammen: "Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift" ist das Bemühen, kognitives Verstehen und Handeln, verstehende und begegnende Hermeneutik miteinander zu verbinden. Impulse des 2. Vatikanums prägen das Buch, das geeignet ist, aus ökumenisch offener katholischer Sicht auch die evangelische Seite an die bleibende Bedeutung des Schriftprinzips zu erinnern.

Die auf die Einführung folgenden sieben Kapitel gehen auf Publikationen des Vf.s aus den Jahren 1983 bis 2003 zurück. Dass die Bibel "Basis der Kirche und der Praktischen Theologie" ist, betont Kapitel 1. Als Erinnerungsgemeinschaft braucht die Kirche den Kommunikationsprozess zwischen Amt und Gemeinde mit dem Ziel einer Bibelmündigkeit der Christen. Der südamerikanischen "Theologie der Befreiung" folgend versteht der Vf. Praktische Theologie als biblisch-kritische Handlungswissenschaft zur Praxis der Befreiung. Strukturanalogien zwischen biblischen Geschichten und gegenwärtigem Leben sind zu entdecken, so dass Begegnungen zwischen biblischer Tradition und gegenwärtiger Situation erfolgen mit dem Ziel, biblische Wahrheit im befreienden Handeln zu erfahren. Praktische Theologie ist dafür zuständig, das Niemandsland zwischen historisch-kritischer Exegese und naiven Spontanidentifikationen begehbar zu machen (87 f.).

Im 2. Kapitel ("Methode und Erfahrung") würdigt der Vf. zuerst den Text einer Päpstlichen Bibelkommission über die Interpretation der Bibel in der Kirche (1993) als Versöhnung von Freiheit und Verbindlichkeit. Das Traditionsverständnis wird gedeutet "als das Vertrauensprinzip in eine Glaubensgemeinschaft und darin, dass sie in eigener Freiheit den Ursprungstexten begegnen darf" (104). Die Pluralität der Auslegung entspricht der Pluralität der Kirche und findet in dieser ihr Maß. Vorausgesetzt ist, dass die Exegeten am Leben der Glaubensgemeinschaft teilhaben. Zugleich wird Auslegungskompetenz auch jenseits von Wissenschaftlichkeit anerkannt. Im Folgenden widmet sich das 2. Kapitel jedoch in der spezifischen wissenschaftlichen Sprache der Semiotik Fragen der Textanalyse, der sprachanalytischen Zugänge zur Bibellektüre und der hermeneutischen Bedeutung literarischer Prosa. Das Kapitel schließt mit der Bamberger Antrittsvorlesung des inzwischen in Tübingen lehrenden Vf.s, die "Überlegungen zu einer angemessenen Vermittlungstheorie zwischen Schrift und Leben" besonders anhand des Stichworts "Beispiel" entwickelt.

Das 3. Kapitel ("Biblische Geschichten in unseren Geschichten") fasst bisherige Überlegungen zusammen. Strukturanalogien zwischen den unterschiedlichen biblischen Geschichten und christlichem Handeln in der Pluralität und Widersprüchlichkeit menschlicher Erfahrungen sind in narrativen und argumentativen Sprachformen zu finden, die als Denkformen einander ergänzen. Im gegenseitigen Austausch der glaubenden Individuen konstituiert sich die Gesamtheit des Leibes Christi. Dieser ekklesiologische Aspekt der Hermeneutik ist grundlegend. In der kirchlichen und theologischen Pluralität ist eine Totalidentifikation mit einem widerspruchsfreien Summarium christlichen Glaubens weder möglich noch notwendig. Das Verhältnis zwischen der Bibel und ihren Lesern kann der Vf. als "paritätisch" bezeichnen, insofern Letztere frei sind, Texte zu kritisieren, die die eigene Situation nicht tangieren oder hinter "besseren" Geschichten zurückzustehen haben (178). Als "Lernschule der Pluralität" hilft die Bibel, die Einheit der Kirchen in ihrer Verschiedenheit zu entdecken. Das Kapitel schließt mit Hinweisen auf die Folgen des Übergangs von der mündlichen zur schriftlichen Erinnerungskultur, die Mehrdeutigkeit des Orakels von Delphi sowie die Einheit in Widersprüchen bei Heraklit und Nicolaus Cusanus.

Der Ambivalenz mythischen Denkens und der spannungsreichen Dialektik von Mythos- und Vernunftrationalität wendet sich das 4. Kapitel zu. Das Bemühen um die mythisch-symbolische Dimension biblischer Texte entstammt dem Interesse, die in den Texten vorfindbaren Erfahrungen für die Gegenwart produktiv aufzunehmen. Mit einer Entmythisierung würde den Texten ihre Erfahrbarkeit genommen. Zugang zur Ganzheit der biblischen Botschaft gewinnt der Einzelne über die Identifikation mit bestimmten Texten. Eine auf befreites und befreiendes, solidarisierendes Handeln zielende Intention durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Damit ergibt sich die Frage, wie "in der Sozialform Kirche Unterschiede und Gegensätze beieinander bleiben und sich gegenseitig ergänzen und kritisieren können" (230). Pluralitätsfähigkeit und kommunikative Einheitsfähigkeit bedingen einander. Auffällig positiv beurteilt der Vf. die Postmoderne, die nach Welsch "eine Gegenkonzeption zur evolutionär-kapitalistischen Durchsetzung des Stärkeren" sei und für die Rechte des Unterlegenen eintrete (236). Hermeneutik ist in diesem Sinne parteiisch, während andererseits die Texte nicht instrumentalisiert werden dürfen. Davor schützt die historisch-kritische Exegese, die aber durch eine möglichst breite, wenn auch zwangsläufig fragmentarische Rezeption der Humanwissenschaften zu einer "integralen Exegese" fortzuführen ist. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zu Bultmanns Entmythologisierungsprogramm im Horizont aktueller Mythendiskussion. Der Vf. folgt H. Ott darin, dass er die Hermeneutik des Selbstverständnisses durch die des Dialogs ergänzt, und er geht über Ott hinaus, indem er eine diakonale Hermeneutik einfordert, die die existentiale Analyse in den Horizont einer heilenden und teilnehmenden Glaubenspraxis stellt.

Der diakonische Aspekt bestimmt auch die im 5. Kapitel erörterte Frage der biblischen Maßgeblichkeit. Maßgeblich ist die unbedingte Diakonie Jesu, der es riskiert, Außenseiter und Bedrängter zu werden. Diakonie erweist sich als hermeneutisch unverzichtbarer Kontext, ebenso wie die als diachrone Kontextualität verstandene kirchliche Tradition. Letztere hat konstitutiven Charakter, "insofern sich die Schrift ja selbst der Geschichte der ersten Gemeinden verdankt" (287). Die Frage, wer wen kontrolliert, wenn es darum geht, sich strikt an die Bibel zu binden, lässt sich durch kein Monopol der Auslegungskompetenz beantworten. Wichtiger als konfessionelle Differenzen ist die ökumenische Verantwortung für alle und damit die öffentlich wahrnehmbare und Öffentlichkeit mitgestaltende orthopraktische Zeugniskraft. Wie in der Diakonie erfolgt auch in der Schriftauslegung eine personale Begegnung, da der Text nicht Objekt, sondern eine subjekthafte Größe ist. Zum Verstehen biblischer Bilder ist "nicht nur eine geistige und sprachliche, sondern auch eine praktisch-kommunikative Hermeneutik notwendig" (315). Unser Zeitgefühl und das Kriterium der Verständlichkeit bilden keinen Maßstab, "wenn damit gemeint sein soll, die Bibel könne ohne persönliche Umkehr und ohne Umkehrung der Zustände in Richtung auf menschlichere Verhältnisse verstanden werden" (319).

Grundsätzliche Überlegungen zur kontextuellen Bibellektüre werden im 6. Kapitel durch Impulse eines lateinamerikanischen Katechismus Vamos Caminando ergänzt. Die Realität der Campesinos macht sie im Unterschied zu uns mit der biblischen Vergangenheit gleichzeitig. Wir müssen den "konstitutiven Mangel unserer materialen Hermeneutik" (369) erkennen, der darin besteht, dass wir die Reichen sind, und wir müssen mit und von den Campesinos lernen, indem wir uns als Adressaten der Umkehrbotschaft wahrnehmen. Wir können mit den biblischen Texten nicht so umgehen wie die Campesinos, denn für uns gilt anders als für sie die Gerichtsbotschaft. Den Hinweis, dass Armut bei uns in anderen Formen existiert, wehrt der Vf. recht schroff ab. Es ergibt sich die Frage, ob gut situierte Pfarrer und Professoren vom Kriterium des sozialen Status her hermeneutische Kompetenz gegenüber Menschen, die um ihren Arbeitsplatz zittern oder ihn verloren, beanspruchen dürfen.

Aus Südafrika berichtet der Vf. über die "Methode des Bibelteilens" (377): Die Gemeinschaft der Gläubigen bindet den sozialen Kontext und die Texte der Bibel zusammen. In der Gegenwart Christi im Sakrament, in der gebeteten Erinnerung und in der solidarischen Begegnung mit den Armen entfaltet sich die Realpräsenz der memoria. Mit dieser heilsamen Trias wird der Gegensatz von Benachteiligten und Verursachern der Benachteiligung konfrontiert. Ersteren gilt der Zuspruch, Letzteren der Anspruch. Wieder ist zu fragen, ob dieses schroffe Gegenüber empirisch der komplexen Realität gerecht wird und ob er theologisch nicht Gefahr läuft, einer seelsorglich kontraproduktiven Gesetzlichkeit Vorschub zu leisten. Wie problematisch pauschale Unterscheidungen auf der empirischen Ebene sind, zeigt der Vf. selbst im Blick auf Israelis und Palästinenser.

Das Schlusskapitel erörtert "Kriteriologische Aspekte zwischen Gnade und Gericht". Aus der Geschichte der Bibelauslegung folgt die Notwendigkeit, Kriterien gegen den Missbrauch der Bibel zu entwickeln. Unter diesem Aspekt würdigt der Vf. die wissenschaftlich-exegetische Hermeneutik, insbesondere die historisch-kritische Exegese, die personale und kommunitäre Hermeneutik im kommunikativen Prozess der Gemeinde, die traditionale Hermeneutik als diachronen Teil der kommunitären, die interkulturelle, die materiale und die optionale Hermeneutik. Letztere hat die Optionen der Umkehrbereitschaft, der Gerechtigkeit und der Gnade zum Inhalt. Fundamental ist die Option der Gnade, die den Indikativ des göttlichen Handelns vor jeden Imperativ menschlichen Handelns stellt. Damit ist die kriteriologische Funktion der Rechtfertigung betont und die oben erwähnte Gefahr der Gesetzlichkeit abgewehrt. Auf dieser Basis ist auch von nichtchristlicher und außerkirchlicher Bibelauslegung zu lernen.

Viel liegt dem Vf. daran, die Geschichte des jüdischen Volkes bis heute hermeneutisch angemessen zu reflektieren. Dazu bedarf es einer sachgemäßen Verknüpfung von biblischer Semantik und ortsbezogener Pragmatik, einer "topopraktischen Kriteriologie". Der Vf. entfaltet sie anhand der oben erwähnten drei Optionen. Bezogen auf Israel setzt er sich kritisch mit F.-W. Marquardt auseinander. Abschließend bedenkt er das Problem von Macht und Gewalt in biblischen Texten im Kontext der Tendenzen zur Banalisierung, Marginalisierung und Dämonisierung von Religion sowie der im Fundamentalismus zugespitzten Ambivalenz der Offenbarungsbuch-Religion. An biblischen "Gewalttexten" zeigt sich, dass keine uniforme Hermeneutik auf alle biblischen Texte anwendbar ist. Sie lassen sich als "Selbsterkennungstexte" verstehen, die uns warnend unsere Gewaltanfälligkeit vorführen. Zugleich verweisen sie auf die Notwendigkeit einer bibelinternen Hermeneutik und eines sozialen Zusammenhangs, innerhalb dessen "die Gläubigen die Bibel im Geist des Gottes lesen, den sie als Liebe und Freiheit glauben" (458).

Namen-, Stichwort- und Bibelstellenregister, ein Quellennachweis und ein detailliertes Inhaltsverzeichnis helfen, das inhaltsreiche Buch zu erschließen. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn der Vf. auf dieser soliden Grundlage einen wesentlich kürzeren Leitfaden einer praktisch orientierten biblischen Hermeneutik vorlegen könnte.