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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

826–828

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Greisch, Jean

Titel/Untertitel:

1) Le Buisson Ardent et les Lumières de la raison. L'invention de la philosophie de la religion. Tome I: Héritages et héritiers du XIXe siècle.

2) Tome II: Les approches phénoménologiques et analytiques.

3) Tome III: Vers un paradigme herméneutique.

Verlag:

1) Paris: Cerf 2002. 626 S. 8. Euro 44,00. ISBN 2-204-06857-8.

2) Paris: Cerf 2002. 560 S. 8. Euro 42,00. ISBN 2-204-07103-X.

3) Paris: Cerf 2004. 1026 S. 8. Euro 70,00. ISBN 2-204-07335-0.

Rezensent:

Richard Schaeffler

Schon Titel und Untertitel des vorliegenden Werkes sind aufschlussreich und zugleich bezeichnend für die Vorgehensweise von Jean Greisch. Der Untertitel benennt das Thema der Untersuchung: Die Religionsphilosophie ist eine "Erfindung" einer vergleichsweise jungen Phase der Philosophiegeschichte. G. bezieht sich einleitend auf die Untersuchung von Konrad Feiereis "Die Umprägung der natürlichen Theologie zu einer Religionsphilosophie" (Leipzig 1965) und nennt sie "une monographie qui fait autorité". Feiereis hat nachgewiesen, dass die Religionsphilosophie eine "Erfindung" der Aufklärungszeit ist und dass sie die Krise ihrer Vorgänger-Disziplin, der "Philosophischen Theologie" voraussetzt.

Diese Krise hatte einen zweifachen Grund: Einerseits schien der wachsende Zweifel an der Existenz Gottes der philosophischen Gotteslehre ihren Gegenstand zu entziehen, andererseits hat die ebenso wachsende Kritik der Theologen am "Gott der Philosophen" es zweifelhaft erscheinen lassen, ob die Philosophie einen geeigneten Zugang zur Erkenntnis Gottes eröffne. Demgegenüber erschien es unzweifelhaft, dass Religionen real existieren und dass sie, als Formen menschlichen Verhaltens, zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibung und philosophischer Deutung gemacht werden können.

G. macht sich diese Beobachtung zu Eigen und verändert zugleich die Perspektive. Die "Erfindung" der Religionsphilosophie ist noch in vollem Gange. Gerade die Vielfalt der Annäherungen ("approches") an das Thema zeigt, dass dieser Zweig der Philosophie noch nicht zu einem abschließenden Verständnis seines Themas und seiner Aufgabe gefunden hat. Die drei Bände zeichnen den Weg nach, auf dem seit mehr als 200 Jahren versucht wird, die "Erfindung der Religionsphilosophie" zu einem Abschluss zu bringen.

Der Obertitel benennt den leitenden Gesichtspunkt, unter dem diese Versuche dargestellt und kritisch gewürdigt werden. Und auch er wandelt eine traditionelle Fragestellung auf charakteristische Weise ab. Traditionell ist die Frage, wie die Religion, die das Thema der Religionsphilosophie sein soll, sich zur Vernunft verhalte, mit deren Hilfe sie philosophisch untersucht werden soll. Hat die Religion - und spezieller: haben die Religionen, wie sie empirisch vorgefunden werden - eine eigene Weise der Rationalität, die der Philosoph explizieren kann? Oder ist die Religion so sehr "das Andere der Philosophie", dass ihre Eigenart bereits verfehlt wird, wenn man sie zum Gegenstand philosophischer Untersuchung macht? Auch diese Frage wird schon durch die Formulierung des Themas in eine neue Perspektive gerückt. An die Stelle der singularischen Rede von "der" Vernunft und ihrem "Licht" tritt die pluralische Rede von "den Lichtern" der Vernunft. Und im Laufe der Untersuchung wird gezeigt, dass, um nur zwei Beispiele zu nennen, in den spekulativen Systemen der idealistischen Religionsphilosophie eine andere Art von Vernunft am Werke ist als etwa bei Feuerbach oder Freud, bei denen "die Religion vernünftig verstehen" so viel bedeutet wie "die Herkunft der religiösen Illusion durchschauen".

Es handelt sich hier, das ist die zentrale These, nicht um verschiedene Auffassungen, die die Religion betreffen und zu denen die gleiche Vernunft durch den Unterschied ihrer Argumentationsmethode gelangt, sondern um verschiedene Typen der Vernunft, deren jeder die Religion in einem anderen "Licht" erscheinen lässt. Diesen verschiedenen "Lichtern der Vernunft" setzt G. den "Brennenden Dornbusch" gegenüber, eine Lichtquelle eigener Art, in welcher die Selbstmanifestation Gottes aufleuchtet und für die es zugleich charakteristisch ist, dass sie jede eigenmächtige Annäherung des Menschen verbietet. Die leitende Frage ist, ob es bei dieser unvermittelten Gegenübersetzung bleiben muss, so dass die Religion und die Philosophie zwei Parallelen wären, die sich nur im Unendlichen schneiden. Die "Erfindung der Religionsphilosophie" wäre dann an ihr Ziel gelangt, wenn sich ein Weg zeigen ließe, um diese "berührungslose Parallelität" von Religion und Philosophie zu überwinden. Und unter Voraussetzung der pluralischen Rede von "den Lichtern der Vernunft" lautet die Frage: Welche Art von Vernunft müsste es sein, deren Licht in ein anderes, positiveres Verhältnis zum Licht des "Brennenden Dornbuschs" treten könnte?

Um diese Frage weder abstrakt zu stellen noch durch voreilige Begriffs-Deduktionen zu beantworten, legt G. in der bisherigen Geschichte der Religionsphilosophie fünf "Paradigmen" frei: das "spekulative", das "kritische", das "phänomenologische", das "analytische" und das "hermeneutische" Paradigma. Jedem dieser Paradigmen entspricht eine eigene Gestalt der Vernunft, so dass G. beispielsweise von einer "phänomenologischen" oder einer "hermeneutischen Vernunft" sprechen kann. Dabei ist sein Interesse nicht nur auf die abgrenzende Charakterisierung dieser Vernunft-Typen gerichtet, sondern ebenso sehr auf deren mögliche Beziehungen untereinander. Diese Beziehungen sind teils historischer Art; so setzt die "phänomenologische Vernunft" die "kritische" voraus. Teils handelt es sich um Beziehungen, die der Sache nach bestehen, aber von den Vertretern dieser Vernunft-Typen nicht immer ausreichend bemerkt worden sind. Dann kann es Sache des Betrachters sein, das "fruchtbringende Reis" des einen Vernunft-Typs in den "Stamm" des anderen "einzupfropfen"; so erörtert G. Möglichkeit und Grenzen einer "Einpfropfung" (greffe) der Hermeneutik in die Phänomenologie bzw. umgekehrt. Doch werden solche Fragen niemals bloß abstrakt gestellt. Jedes unter den "Lichtern der Vernunft" wird daran gemessen, in welcher Weise und in welchem Maße es geeignet ist, das Spezifikum der Religion einer philosophischen Betrachtung zugänglich zu machen.

Dabei ist unverkennbar, dass G. das "hermeneutische Paradigma" favorisiert, ohne jemals die Frage zu vergessen, ob unter der Perspektive der Hermeneutik auch all jene Einsichten bewahrt werden können, die nur im Lichte der anderen Formen der Vernunft gewonnen werden konnten, oder welcher "Preis" für die Bevorzugung der "hermeneutischen Vernunft" bezahlt werden muss. Dieses durchweg kritische Votum für die "hermeneutische Vernunft" überrascht nicht bei einem Autor, der durch Veröffentlichungen wie "L'âge hermeneutique de la raison", Paris 1985, "Le cogito hermeneutique", Paris 2000, oder, in deutscher Sprache verfasst, "Hermeneutik und Metaphysik", München 1994, bekannt geworden ist.

Es ist im Rahmen einer Rezension ganz unmöglich, den Reichtum an Einsichten zu würdigen, zu denen G. bei der Interpretation der behandelten Autoren gelangt. Man muss z. B. seine Ausführungen zu Schleiermacher, Hegel oder Rosenzweig, zu Husserl und Heidegger im Einzelnen studieren, um die Erfahrung zu machen, dass so bekannte Autoren dem Leser auf ganz neue Weise begegnen, wenn ein so einfühlsamer Interpret wie G. sich ihrer Texte annimmt. Besonders informativ gerade für deutsche Leser ist die Darstellung der Entwicklung, die die Phänomenologie in Frankreich in den letzten 20 Jahren genommen hat (Jean-Lous Chrétien, Jean-Yves Lacoste, Jean-Luc Marion, Michel Henry, Dominique Janicaud). Den Abschluss des Werkes bildet ein ausführliches Kapitel über den Nestor der französischen Phänomenologie Paul Ricur.

Eine Schwierigkeit für den Leser resultiert daraus, dass die Unterscheidung der "Paradigmen" etwas Idealtypisches an sich hat, so dass es nicht immer ganz gewaltlos gelingt, einzelne Autoren je einem dieser Typen zuzuordnen. So ist etwa von Schleiermacher sowohl im ersten Band in dem Kapitel "Das spekulative Paradigma" als auch im dritten Band im Kapitel "Das hermeneutische Paradigma" die Rede; von Heidegger wird an mannigfachen Stellen gehandelt, vor allem wegen seines spannungsreichen Verhältnisses zu Husserl und seiner Bedeutung für die Hermeneutik Gadamers, ehe er im vierten Kapitel des letzten Bandes ausführlich behandelt wird. Die leitende Frage, unter die G. dieses Kapitel stellt, ist durch eine (Gelegenheits-)Äußerung Heideggers in einem späten Interview für den "Spiegel" veranlasst: Angesichts der Gefahren der modernen Technik "kann nur ein Gott uns noch retten". G. fragt: "Welcher Gott kann uns noch retten?" und erörtert unter dieser Leitfrage den "Weg von Meßkirch nach Todtnauberg".

Dem Leser, der auf dem weiten Felde, das G. abschreitet, nach Orientierung sucht, können zwei Kapitel zu besonders intensiver Lektüre empfohlen werden: die "Introduction générale" (Band I, 11-69), in der das Programm des gesamten Werkes entwickelt wird, und die "Reprise" (Band III, 161-326), in der in einer kritischen Rückschau auf alle anderen Paradigmen die Darstellung des "hermeneutischen Paradigmas" vorbereitet wird. (Eilige Leser, denen auch diese "reprise" noch zu umfänglich ist, können sich in deren erstem Abschnitt "Von der spekulativen zur hermeneutischen Vernunft", Band III, 161-192, einen ersten Eindruck davon verschaffen, auf welche Weise G. die Abfolge der bisher behandelten Paradigmen zugleich als einen Weg versteht, der "vers un paradigme hermeneutique", also zu einer künftigen Gestalt der Hermeneutik und damit zu der noch keineswegs abgeschlossenen "Erfindung der Religionsphilosophie" führen soll.)

G.s Werk ist ohne Parallele im deutschen Sprachraum. Das gilt sowohl für die Fülle der herangezogenen Quellen aus der Geschichte einer immer noch im Entstehen begriffenen Religionsphilosophie als auch für die Subtilität einfühlsamer Interpretationen. Den deutschen Leser macht es nicht nur mit jüngeren Entwicklungen der Philosophie in Frankreich bekannt, sondern es dokumentiert zugleich die besondere Weise, wie die Werke deutschsprachiger Philosophen in Frankreich rezipiert werden.

Eine Übersetzung ins Deutsche muss dringend gewünscht werden.